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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

1004–1005

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Segovia, Carlos A.

Titel/Untertitel:

The Quranic Noah and the Making of the Islamic Prophet. A Study of Intertextuality and Religious Identity Formation in Late Antiquity.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XVI, 154 S. = Judaism, Christianity, and Islam – Tension, Transmission, Transformation, 4. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-040349-7.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Die Forschung zur frühislamischen Geschichte ist in lebhafter Be­wegung, wenngleich sie sich erst langsam und mühsam von lange unhinterfragten Einschränkungen konventioneller, konservativer Methodenvoraussetzungen befreit. Der paradigmatische Charakter der Prophetengeschichten im Koran und ihre Verflechtungen mit dem Bild Muhammads sind Gegenstand umfangreicher Un­tersuchungen (herausragend zuletzt H. N. Josua, Ibrahim, der Gottesfreund, Mohr Siebeck), der spätantike Kontext wird für das Verständnis des Korans systematisch fruchtbar gemacht (A. Neuwirth; Corpus Coranicum).
Die vorliegende Studie von Carlos A. Segovia kommt im Umfang bescheiden daher, lässt sich aber durchaus programmatisch lesen und erhält so an sich einen modellhaften Charakter. Sie erhebt ausgehend vom Koran, der »rückwärts« mit vorkoranischen und »vorwärts« mit nachkoranischen Quellen in ein vielschichtiges Entwicklungskontinuum gestellt wird, die in Teilen der frühislamischen Bewegung zu belegende Vorstellung von Muhammad als einem neuen Messias im Bilde Noahs.
Die koranischen Noahgeschichten nehmen prophetische, es-chatologische und messianische Züge der vorrabbinischen und frühchristlichen Noahnarrative auf, amalgamieren zu einem Ty-pos des »koranischen Propheten« und liefern spezifische Aspekte für die Darstellung Muhammads in der Sira Ibn Ishaqs/Ibn Hi­schams (trad. »Biographie« Muhammads, bei S. auch das »Muhammadische Evangelium« genannt). Nicht um besondere Distanz einzutragen, sondern ausschließlich aus methodischen Gründen mit dem Ziel, dem komplexen Zusammenspiel von Intertextualität und religiöser Identitätsbildung am Beispiel Noahs auf die Spur zu kommen, hält S. konsequent drei literarische Größen auseinander: das facettenreiche Bild des »koranischen Noah«, den zunächst ano-nymen (!) »koranischen Propheten« (im Koran als »Du« angesprochen) sowie »Muhammad« in seiner voll ausgebildeten frühislamischen Repräsentation (Sira).
Auch wenn Arbeiten in diesem Bereich immer auch die historischen Fragen tangieren, handelt es sich um eine dezidiert intertextuell angelegte Untersuchung zur Entstehung des (literarischen) Bildes Muhammads mit sozialwissenschaftlichen und literarischen Methoden. Kapitel 1 liefert eine sehr nützliche, wenn auch äußerst komprimierte Forschungsübersicht. Kapitel 2 um­reißt das apokalyptische Noahbild in der vorislamischen jüdischen und christlichen Literatur. Kapitel 3 und 4 präsentieren und analysieren die koranischen Noahpassagen, die in akribischer Feinarbeit mit den vollständigen Texten auch in umfangreichen Tabellen (Arabisch und Englisch) dargeboten werden. Kapitel 5 untersucht das Verhältnis des koranischen Noah zum »koranischen Propheten« und zeigt etwa auf, inwiefern die Noahgeschichten Rückschlüsse auf das Leben des koranischen Propheten zulassen. Kapitel 6 fragt nach literarischen Vorbildern und (hypothetischen) Textquellen, Kapitel 7 nach der Weiterverarbeitung der koranischen Noahgeschichten durch die Autoren der Sira. Eine Reihe von Exkursen vertiefen Themen, Indizes sind vorhanden.
Neu ist der Fokus, der die messianischen Kontroversen und Elemente mit eschatologischen Zügen in den unmittelbaren Kontext der Entstehung des Islam als neuer Religion rückt (wobei in der Reihe der behandelten Texte die »Geheimnisse [Nistarot] des Rabbi Schimon bar Jochai« aus der ersten Hälfte des 8. Jh.s und das »Gebet [Tefilla] des Rabbi Schimon bar Jochai« nicht erscheinen). Der »neue Messias« war Kennzeichen einer Phase der Bildung einer neuen distinkten Gemeinschaft, in der die Einwirkung der wechselseitigen (jüdisch-christlichen) Polemik auf die Entstehung des Islam virulent war, die freilich dann überholt wurde von einer Phase der Konsolidierung mit der Etablierung eines neuen »heiligen Buches« und der Transformierung eschatologischer Aspekte in Anbetracht der realen politischen Erfordernisse.
Die intensive Aufmerksamkeit für diese frühe Phase öffnet und schärft den Blick für ein offenkundig mühsam zu beackerndes, jedoch zugleich reichen Ertrag verheißendes weites Forschungsfeld. Die Vehemenz der methodologischen Verteidigung intertextueller Studien im Allgemeinen und des hier vorgestellten Ansatzes im Besonderen (9–14 u. ö.) lässt die Konflikthaftigkeit der Koranforschung insbesondere im Blick auf die Koranentstehung erkennen. S. positioniert sich letztendlich deutlich auf der Seite derer, die die islamische Gemeinschaft aus einem ursprünglich christlichen Milieu herauswachsen sehen. Die islamische Tradition zur Frühgeschichte des Islam, so die zugrundeliegende These, liefert nicht den historischen Zusammenhang bzw. Hintergrund zur Koranentstehung, sondern ist als mächtige diskursive Strategie Teil der spätantiken religiösen Identitätsbildungsprozesse, die mit den Instrumenten der kritischen Diskursanalyse zu untersuchen sind (11). Insofern abstrahiert die intertextuelle Analyse nicht von der historischen Perspektive, sondern gewährt dieser im Gegenteil erst den angemessenen Raum. S. wehrt sich gegen die vorauseilende Wahrnehmung, mit einer solchen Auffassung von Wissenschaftlichkeit einer politischen Agenda zu dienen. Kritisches Denken sei kein »kolonialistisches Werkzeug«, Wissenschaft müsse ohne Angst mit Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten arbeiten. Es ist zu hoffen, dass die intensive Bemühung um den Korantext als spätantikes Schriftzeugnis eine kritische Koranausgabe in greifbare Nähe rückt. S.s Noah-Studie leistet dazu einen bemerkenswerten Beitrag.