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Ausgabe:

Oktober/2018

Spalte:

999–1000

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Barakat, Zeina M.

Titel/Untertitel:

From Heart of Stone to Heart of Flesh: Evolutionary Journey from Extremism to Moderation.

Verlag:

München: Herbert Utz Verlag 2017. 294 S. = ta ethika, 17. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-8316-4645-6.

Rezensent:

Ralf Karolus Wüstenberg

Das zu besprechende Buch, das seine Überschrift der Referenz an ein biblisches Zitat (Ez 36,26; vgl. aber auch im Koran Sure 2,74) verdankt, ist im Rahmen des Jenaer Trilateralen DFG-Projekts »Hearts of flesh – not stone« entstanden. Die aus Ost-Jerusalem stammende palästinensische Autorin ist mit der Studie an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert worden. Das äußerst lesenswerte Buch von Zeina M. Barakat, das in der philosophischen Reihe »ta ethika« ihres Doktorvaters erschienen ist, gibt schlaglichtartig einen Einblick in die komplexen und disparaten Narrative im Nahost-Konflikt und zeichnet exempla risch an einer Biographie nach, wie Extremismus überwunden werden kann mithilfe einer Zirkelbewegung von Mäßigung (»mo­deration«), Versöhnung (»reconciliation«) und Demokratie (»democracy«).
Im Einzelnen werden die Begriffe im Buch zu ethischen Indikatoren, die Wege zu Frieden und Verständigung ebnen könnten; nämlich (a) Mäßigung, die Gerechtigkeit und Ausgewogenheit im Umgang mit täglichen persönlichen und nationalen Themen indiziert, (b) Versöhnung, die die Bereitschaft zum Hören des Narratives des Anderen voraussetzt sowie die Fähigkeit zur Empathie, indem man sich auf die Lage des Anderen einlässt; (c) Demokratie, die die Achtung vor den Ansichten Dritter sowie die Toleranz gegenüber den Glaubensüberzeugungen Anderer voraussetzt. Alle drei Elemente seien miteinander verwoben und bilden das, was anhand der Biographie des palästinensischen Intellektuellen und Friedensaktivisten Mohammed S. Dajani Daoudi als Versöhnungszyklus herausgearbeitet wird.
Anhand des Lebenswegs jenes Aktivisten und Intellektuellen wird fallstudienartig der Wandel von einer Haltung des Extremismus zu Mäßigung, Versöhnung und Demokratie nachgezeichnet: Dajanis Erziehung in einer liberalen muslimischen Familie, seine pädagogischen Prägungen und politischen Reisen, seine ethische Entwicklung, seine berufliche Karriere sowie seine Bemühungen, Kreativität und kritisches Denken in seinen Lehren zu fördern. Viele Faktoren des biographischen Transformationsprozesses werden beleuchtet, wie Familie, Bildung, Religion, Kultur und Medien: Von der »Friends Quaker School« nahm Dajani z. B. seine Ansichten über religiöse Toleranz mit; er lernte hier in der Stadt Ramallah im Westjordanland, dass man keinen Unterschied zwischen Muslim und Christ macht. Später, als Universitätslehrer, brachte er seinen Schülern die Bedeutung des gegenseitigen religiösen Respekts bei. Es festigte sich ein starkes Gefühl von Egalitarismus, das ihm verholfen habe, sich vom religiösen und politischen Extremismus loszusagen.
Beispielhaft wird der palästinensische Gelehrte und Friedensaktivist als Akteur einer Transformation vom Extremismus zu Mäßigung, Versöhnung und Demokratie beschrieben. Als Kernkriterien solcher Transformation gelten zum einen die Begegnung mit dem Anderen, genauer mit der »Menschlichkeit des Anderen«, sowie die Annahme, dass Versöhnung bereits mitten im Konflikt möglich ist, wenn grundlegende Bedürfnisse erfüllt sind. In Verbindung mit dem, was sich der Psychologe der Tel-Aviv-Universität, Arie Nadler, als bedarfsgerechtes Modell der Versöhnung herausgebildet hat, fordert die in Jena schulbildende sogenannte »Hölderlin-Maxime« (Martin Leiner), dass die Bedürfnisse von Menschen im Prozess der Versöhnung inmitten von Konflikten respektiert werden müssen. Gemäß der Bedürfnispyramide von Abraham Maslow erforderten besonders grundlegende Bedürfnisse Aufmerksamkeit: Ernährungssicherheit, medizinische Versorgung, Wohnen und Sicherheit. Für Dajani konzentrierten sich diese Bedürfnisse mehr auf die Liebe zu Land, Freiheit, Identität, Ehre, Würde, Respekt und Selbstachtung (vgl. 251–270).
Das über 50 Seiten lange Einleitungskapitel des Buches gibt einen hervorragenden Überblick über die Geschichte des Nahost-Konflikts und die bis in die jüngste Gegenwart wirkenden Narrative (23–78). Hier wird der historische Referenzrahmen gesetzt, in dem die intellektuelle und politische Transformation am Fallbeispiel Dajanis analysiert wird. Als moralphilosophischer Interpretationsrahmen wird u. a. Charles Taylors »Sources of the Self« herangezogen. Identität entwickele sich immer innerhalb eines moralischen Settings, sei aber in sich entwicklungsfähig durch sich verändernde Umgebungen, soziale Prozesse und individuelle Entscheidungen.
Dajani baute seine Identität zunächst in einer familiären und schulischen Umgebung auf, in der Frieden, Toleranz und Versöhnung dominierte, auch wenn intensive Ungerechtigkeitserfahrungen signifikant waren. An der amerikanischen Universität in Beirut hat sich sein moralisches Setting verändert (111 ff.). Extremismus und Gewalt wurden mehr und mehr positiv bewertet. Mo­deration und Toleranz waren keine geschätzten Werte mehr. In den Westen zurückgekehrt, fand Dajani seinen Weg zurück zu den Werten seiner Kindheit. Distanziert vom Konflikt und einer anderen Kultur ausgesetzt, half ihm das zum Perspektivwechsel. Die Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen israelisch-palästinensischen Narrativen, pädagogische Einsichten, persönliche Er­fahrungen und die Offenheit für die Perspektive des Anderen können dazu beitragen, den Weg von Extremismus zu Mäßigung zu beschreiten. Es ist für Dajani der Beginn der sogenannten Wasatia-Bewegung.
Der zentrale Begriff, nämlich wasatia, arabisch für Mäßigung (»moderation«), aber auch Versöhnung oder Mittelweg (zwischen Extremismus und Anpassung), wird durch B. in den religiösen (150–153) wie auch den philosophischen Diskussionszusammenhang von Aristoteles, Maimonides und al-Ghazali gerückt und in einem großen philosophischen Kapitel bearbeitet (137–150).
Das Buch bietet aufs Ganze gesehen im besten Sinne eine moralphilosophische Leitbiographie, die nicht zuletzt einen hoffnungsvollen Ausblick auf einen der schwierigsten Konfliktherde der Welt wirft. Der »Wasatia-Zyklus« der Transformation von Extremismus zu Mäßigung und weiter zu Versöhnung und Demokratie ist ein inspiratives Modell. Dass die Wasatia-Bewegung über die Biographie eines Einzelnen hinaus ein strukturelles Potential für den Frieden im Nahen Osten hat, bleibt zu hoffen. B.s Buch zeigt einmal mehr, wie wichtig die Außenperspektive auf das eigne Land zur Dekonstruktion eines extremistischen Narrativ ist.
Die interdisziplinär hervorragend anschlussfähige Studie weist schließlich auf wichtige Anknüpfungspunkte im interreligiösen Ge­spräch, wie die Bedeutung einer dezidiert konzeptionellen Konturierung oder auch kohärente Einbettung der empirischen Befunde, etwa hinsichtlich der Zuordnung des arabischen Wasatia-Konzepts mit dem stärker jüdisch-christlich geprägten Versöhnungsbegriff.