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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

75–78

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schröter, Jens

Titel/Untertitel:

Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. XVIII, 529 S. gr.8 = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 76. Lw. DM 148,-. ISBN 3-7887-1646-0.

Rezensent:

Dieter Zeller

Diese theologische Habilitationsschrift an der Berliner Humboldt-Universität greift in die aktuelle Diskussion um die Logienquelle (= Q) und das Markus- bzw. Thomasevangelium (= EvTh) ein, wie der Forschungsbericht Kap. II erkennen lässt. Einerseits versuchten deutsche Exegeten überlieferungskritisch hinter die großen Logienkompositionen von Q zurückzufragen (2.2.3 als "Wachstumsmodell", in Nordamerika als "organic model" apostrophiert), andererseits zerlegten nordamerikanische Forscher Q literarkritisch in Schichten. Von der sich ergebenden weisheitlichen Grundschicht zog man eine direkte gattungsmäßige Linie zum EvTh. Schließlich wurde es im Zuge intertextualer Betrachtung wieder Mode, eine Verarbeitung von Q durch Mk anzunehmen.

Gegenüber diesen und anderen Tendenzen arbeitet S. - ebenfalls in Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte - in Kap. 1 methodische Gesichtspunkte heraus. Er wendet sich gegen die Fixierung der "Formgeschichte" auf die "kleine Einheit", die Verbindung von Literarkritik und Gattungsanalyse, die Rekonstruktion einer "Urfassung", den undifferenzierten Rückschluss von der Gattung auf einen "Sitz im Leben" u.ä. Dies alles sei dadurch in Frage gestellt, dass es keinen glatten Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit gibt, auch wenn man nicht mit W. Kelber von einer "Diastase" reden könne. Vielmehr lasse es die veränderte Kommunikationssituation von vornherein als aussichtslos erscheinen, dass hinter dem einzelnen Werk frühere schriftliche Stadien erhoben werden können.

Demgegenüber möchte S. auf die "Rezeption", d.h. "die Auswahl, sprachliche Gestaltung und literarische Kontextualisierung vorausliegender Überlieferung" achten (64f.) und betont immer wieder, dass das der für die Interpretation allein entscheidende Ausgangspunkt sei. Dass es sich aber um Überlieferung handelt, wird an ihrem Vorkommen in literarisch voneinander unabhängigen Werken deutlich. Deshalb konzentriert S. seine Untersuchung auf das Mk wie Q gemeinsame Logienmaterial und zieht dann noch Parallelen aus dem EvTh heran. Er behandelt nahezu alle umfangreicheren Doppelüberlieferungen (die Missionsinstruktion Q 9,57-10,22, den Beelzebulstreit Q 11,14-26, die Komposition 12,2-12) mit Ausnahme der Rede gegen die Pharisäer, aber auch kleinere Spruchgruppen wie Q 11,33-36; 14,26 f.; 17,33; 17,6).

Im Vergleich mit der angeblich bei der Untersuchung von Einzelüberlieferungen stehen bleibenden Diss. von R. Laufen (439 Anm. 3) liegt der Schwerpunkt bei S. in der Zuordnung zum Kontext, der freilich im letzten Drittel von Q hypothetisch bleiben muss. Voraus geht also immer eine Analyse der redaktionellen Einbettung der Logien bei Mt und Lk bzw. Mk, dann wird der wiederhergestellte Q-Text (dankenswerterweise noch einmal im Anhang dargeboten) auf seine innere Kohärenz hin untersucht.

Das Ergebnis ist die Einheitlichkeit der Q-Perikopen; es gibt keinen Anlass für literarkritische Operationen oder die Annahme von "Interpolationen". Der Überschuss gegenüber Mk (z. B. 10,12-16; 11,19 f.) wird auf die Q-Rezeption zurückgeführt. Oft handelt es sich um Logien, die auch sonst selbständig in der frühchristlichen Literatur begegnen (z. B. 9,58; 10,2.3.7c.16) oder um redaktionelle Bildungen (vorsichtig 293 für 11,19 f. erwogen).

Gegenüber der Stratigraphie von J. S. Kloppenborg unterstreicht S., dass gerade das Nebeneinander von Instruktionen, Drohworten und eschatologischen Verheißungen für Q charakteristisch sei. Auch bei Mk lassen sich keine vorredaktionellen schriftlichen Sammlungen nachweisen (z. B. im Gleichniskap. 4); er komponiert Zusammenstellungen wie 3,20-35; 6,7-13; 8,34-9,1 entsprechend seiner Konzeption aus vorliegenden mündlichen Traditionen. Eine Benutzung von Q oder gar von redaktionellen Elementen aus Q ist nicht zu verifizieren. Das Verhältnis zum EvTh, in dem die Logien oft isoliert verwertet sind, sieht S. differenziert: Zwar weisen einige Sprüche sprachliche Prägung durch die Synoptiker auf, wobei der Einfluss in der mündlichen Überlieferung oder erst bei koptischen Übersetzern und Abschreibern erfolgen konnte. Andere Logien sind aber unabhängig rezipiert worden. Vor allem ist das EvTh in seiner Anordnung und seiner inhaltlichen Auffassung völlig eigenständig (vgl. das Resümee 467 f.).

Was nun die theologische Konzeption angeht, so sieht S. Q näher an Mk als am EvTh. In Anlehnung an J. Assmann fasst er Mk und Q unter "biographische Erinnerung an Jesu Worte", die nicht prophetisch reaktiviert, sondern als Reden Jesu historisiert würden. Dazu muss er freilich aus minor agreements und anderen Indizien eine Einleitung zu Q postulieren, die das Auftreten des Täufers durch ein Jesaja-Zitat deutete und - ohne die Taufszene - von der Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes berichtete (443 ff. ganz spekulativ). Inhaltlich wichtig ist, dass sowohl Mk wie Q die Botschaft von der in Jesu Wirken angebrochenen baslileia tu theu aufnehmen und auf das Kommen des Menschensohns hinausblicken. Trotz seiner Skepsis gegenüber der möglichen Rückgewinnung von "Urformen" aus der mündlichen Überlieferung versucht S. den von der "Formgeschichte" behaupteten Bruch zwischen historischem Jesus und nachösterlichem Kerygma zu überwinden, indem diese zentralen Themen von Mk und Q "als Reaktion auf das Wirken Jesu verständlich gemacht werden" (484). So vermutet S. (455), Jesus selber habe "Menschensohn" als hoheitsvolle Selbstbezeichnung gebraucht. Welche Worte aber konkret dafür in Frage kommen (456: Mk 2,10.28?), muss beim S.schen Ansatz unklar bleiben. Im EvTh dagegen fehlt "Menschensohn" in eschatologischer Bedeutung. Hier spricht Jesus als der "im Fleisch" Gekommene, dessen Worte in veränderter Zeit weiterhin Gültigkeit haben, ohne dass sie in eine Spanne zwischen seinem Erdenwirken und seiner Wiederkunft einzuordnen sind (478).

Zweifellos bezeugt die umfangreiche, leider in einem zähen und umständlichen Stil geschriebene Arbeit eine gründliche Kenntnis des Forschungsstandes und der aktuellen Probleme. Sie setzt eine Erarbeitung des Q-Textes voraus, die im Allgemeinen überzeugt (345 ist die Bevorzugung von Lk 11,36 aber unbegründet). Weil S. eine schriftliche Quelle zugrundelegt, kann offenbar in diesem Fall eine "Urfassung" rekonstruiert werden, obwohl S. selbst die Flüssigkeit von schon verschriftlichten Texten beobachtet (vgl. 63). Dieser Optimismus würde vielleicht bei einem Versuch an narrativen Texten (z. B. den Q-Gleichnissen 14,16-24; 19,12-27) getrübt. Überhaupt sollten bei der Bestimmung des Verhältnisses von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit die Gattungen stärker berücksichtigt werden. Prägnante Sprüche besitzen vielleicht eine größere Konsistenz als Erzähltexte. S.s Ausführungen über die jeweilige Kontextualisierung sind gewiss wertvoll, wenn auch nicht unbedingt neu.

Dass 9,58 und 10,22 die Botenrede christologisch rahmen sollen, entschärft m.E. noch nicht die innerhalb des Textes festzustellenden Unebenheiten (Verhältnis V. 2 zu 3, Adressatenwechsel in V. 13 ff.). Diese sind sicher nicht literarkritisch zu erklären; man kann sie aber auch nicht einfach in synchroner Lektüre einebnen, wie das S. hier und anderswo (z. B. bei der Stichwortkomposition 12,8-12) unternimmt. Nach herkömmlicher Methodologie sind nach der Literarkritik zurückbleibende Spannungen und Auffälligkeiten Anlass für eine überlieferungskritische Rückfrage, die sich auch paralleler Versionen bedient. Diese Neugier auf eine eventuell schriftliche oder auch nur mündliche Vorgeschichte des Textes darf nicht einfach als unmöglich abgewiesen werden; die Alttestamentler praktizieren sie mit Gewinn. S. selbst gibt zu, dass die die Überlieferung ausmachenden Einzellogien "hin und wieder zu kleineren Spruchgruppen zusammengefügt worden sein können, wobei nicht auszuschließen ist, daß dies zum Teil auch schriftlich geschehen ist" (216). Kann man eine solche Sammlung aber auf "simple recording devices" reduzieren (ebd. Anm. 345 mit Kelber); spiegeln sich darin nicht auch die Interessen der Tradenten?

Der von S. favorisierte Begriff "Rezeption" ist umfassender als der Lührmannsche Redaktionsbegriff und gibt der aufgenommenen Tradition ihr Gewicht. Er ist aber auch unschärfer, etwa wenn man entscheiden soll, wann und wo 11,29fin.30 gebildet wurden. Die Auskunft von S. 273, dass Q die Überlieferung des Logions von der Zeichenverweigerung mit der Menschensohn-Vorstellung verknüpft und (mit V. 31f.) zu einem Gerichtswort ausgebaut hat, weckt erst die überlieferungskritische Neugier. Ebenso steht es S. 258 f. mit 11,19 f.: Wenn als "einzig plausible Alternative verbleibt ..., beide Verse als im Prozeß der Verarbeitung des hinter Mk und Q erkennbaren Traditionsstückes durch Q entstanden zu beurteilen", möchte man gern Genaueres über diesen Prozess erfahren.

S. hat zweifellos einen bedeutsamen Beitrag zum Gespräch über die Evangelien und ihr Verständnis geliefert. Die meisten Argumentationen zu Mk und zum EvTh leuchten mir ein. Was Q betrifft, so meine ich, dass das harmonische Bild, das S. zeichnet, noch größerer Tiefenschärfe bedarf. Das Gespräch muss also weitergeführt werden.