Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2018

Spalte:

965–967

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Dahlke, Benjamin

Titel/Untertitel:

Kritische Orthodoxie. Zum Umgang evangelischer und anglikanischer Theologen mit der Lehrformel von Chalcedon.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius Verlag 2017. 264 S. = Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien, 80. Lw. EUR 34,90. ISBN 978-3-89710-699-4.

Rezensent:

Martin Hailer

Der anzuzeigende Band ist die um einige in Aufsätze ausgelagerte Darstellungen verschlankte Habilitationsschrift Benjamin Dahlkes, der seit 2017 Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Theologischen Fakultät Paderborn ist. Seine Dissertation zur katholischen Rezeption Karl Barths (2010, engl. 2012) wurde auch in evangelischen Kreisen wahrgenommen. Hier nun gilt seine Aufmerksamkeit neuzeitlichen und gegenwärtigen Entwicklungen in der Christologie evangelischer und anglikanischer Provenienz. Er macht zwei große Entwicklungen aus: Die eine hat mit der Entdeckung der Historie für die Theologie zu tun, was im Auseinandertreten vom Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens führt. Die zweite besteht in der nicht zuletzt auf kantische Motive zurückgehenden Kritik an den substanzontologischen Implikationen der Zweinaturenlehre des Chalcedonense.
Das Motiv, das im ersten Kapitel (»Der ›Jesus der Geschichte‹ und der ›Christus des Glaubens‹. Exegetisch begründete Anfragen an das Konzil von Chalcedon«, 25–122) behandelt wird, ist durchaus bekannt: Die Etablierung der historisch-kritischen Exegese und die Entwicklung der Leben-Jesu-Forschung führte spätestens ab der Frühaufklärung zu teils harschen Konflikten mit denjenigen, die sich für orthodox erklärten oder doch zu einem solchen Gegenbild aufgebaut wurden. In breiten Strichen wird zunächst die Entwicklung vom Lessing-Goeze-Streit bis zu wichtigen deutschsprachigen Theologen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gezeichnet. Häufig geht dies über die Nennung von Namen, Lebensdaten und einigen wichtigen Werken nicht hinaus. Das ändert sich tendenziell, wenn der Vf. die systematische Frage, wie das Wissen der menschlichen Natur Jesu mit der Allwissenheit seiner göttlichen Natur zusammengedacht werden kann, an die Literatur stellt (52). Hierzu wechselt er schwerpunktmäßig zur Besprechung anglikanischer Werke. Zunächst werden Ansätze kenotischer Christologie vorgestellt, die die Einheit des Wissens Christi als Selbstbeschränkung der göttlichen Natur verstehen. Ein Gegenzug besteht darin, den Unterschied zwischen Mensch und Gott in Jesus bis hin zur Unvereinbarkeit steilzustellen. Dieser Zug kulminiert für den Vf. in John Hicks These vom Mythos Inkarnation. Über »The Myth of God Incarnate« (1977) und einige kritische Reaktionen darauf wird relativ ausführlich berichtet (74–86). Der Vf. sieht hier eines der wichtigen Motive für die Entwicklung der analytischen Religionsphilosophie. Als Vertreter werden Thomas Morris und Richard Swinburne genannt. Die Diskussion (106–117) ist jedoch eine Würdigung der analytischen Religionsphilosophie überhaupt, die u. a. mit allgemeinen Bemerkungen zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit (109 f.) den Faden der Auseinandersetzung um die christologischen Probleme verliert.
Kapitel 2 (»Gottes Offenbarung in Jesus Christus. Zur Kritik an der Zweinaturenlehre im 19. und 20. Jahrhundert«, 123–197) be­ginnt mit einigen Bemerkungen zu Kants kritischem Programm und einer Paraphrase der Schleiermacherschen Christologie aus der 2. Auflage der Glaubenslehre. Es folgen in gleicher Sache Ritschl, Harnack, Kaftan, Herrmann und andere. Spätestens mit Ernst Troeltsch geht die Ritschl-Schule – deren Schulcharakter aber um­stritten ist (150) – ihrer Auflösung entgegen. Ausführlichere Berichte zur Christologie bei Karl Barth (179–190) und Wolfhart Pannenberg (190–196) folgen. Der Vf. resümiert, dass dieses Tableau sehr unterschiedlich optierender Theologen deutlich macht, dass das Risiko, vor dem die Väter des Chalcedonense standen, auch das der Gegenwärtigen ist: Das Miteinander von Gott und Mensch darf weder zum Nebeneinander noch zur Vermischung werden (196 f.).
Nach einer sehr kurzen Zusammenfassung folgt der Ausblick (201–207): Er bringt das Formular von Chalcedon in Erinnerung und erklärt, dass es einen »Denkraum« (202.204) eröffnet, der kritischen Nachvollzug und Weiterinterpretation nötig macht, weil Orthodoxie sich nicht in bloßer Zustimmung erschöpft. Der Ausblick und damit das Buch enden mit allgemeinen Erwägungen über die Unabschließbarkeit von Verstehensprozessen der Sache des Glaubens.
Es ist zu würdigen, dass ein katholischer Verfasser hier viel Material anglikanischer und vor allem evangelischer Herkunft sichtet. Freilich dominiert der Eindruck des überblickhaften Be­richts über auch anderswo schon gut zugängliche Sachverhalte. Statistisch betrachtet: Der Vf. weist in 878 Fußnoten auf 199 Textseiten eine sehr große Menge von Literatur nach, die im anschließenden Literaturverzeichnis auf 53 S. und damit auf fast einem Viertel des Textvolumens noch einmal genannt wird. Diese Menge ist beeindruckend, freilich wird nur ein sehr kleiner Teil davon wirklich diskutiert.
So bleibt der Eindruck einer Studie, die sehr ma­terialreich durchaus bekannte Entwicklungen benennt und teils nachzeichnet, dabei aber außer den recht allgemeinen Schlussfolgerungen die Argumentation nicht weitertreibt. Angesichts der unstreitig großen Kenntnisse des Vf.s ist das zu bedauern.