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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

956–957

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Werren, Melanie, Mathwig, Frank, u. Torsten Meireis [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Demenz als Hölle im Kopf? Theologische, philosophische und ethische Perspektiven.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2017. 164 S. Kart. EUR 31,00. ISBN 978-3-290-17888-8.

Rezensent:

Hans-Martin Rieger

Die Demenz stellt zentrale Leitvorstellungen der modernen Gesellschaft infrage: Produktivität, Rationalität und Autonomie. Sie löst deshalb tiefe Ängste und Irritationen aus. Der Tagungsband arbeitet sich in einem ersten Teil an dieser von H. Rüegger, U. H. J. Körtner u. a. gestellten Diagnose ab. Ziel ist die kritische Auseinandersetzung mit vorherrschenden Idealen eines modernen Menschenbilds. In einem zweiten Teil werden dann alternative Zugänge zum Phänomen der Demenz vorgestellt und diskutiert.
T. Meireis zeigt, dass für eine Demenzethik die im pluralistischen Kontext der Moderne häufig ausgeblendete Frage nach dem Guten fatale Folgen hat. Denn Selbstoptimierungs- und Effizienzimperative dringen gerade über den Bereich der Vorstellungen des guten Lebens in das gelebte Ethos ein. Sie führen dazu, dass die Möglichkeit eines guten Lebens für demenzkranke Menschen kaum denkbar scheint.
F. Mathwig wendet sich dem Leitwert der Produktivität zu. Er warnt vor einer einseitigen Kritik, insofern ein Ethos wechselseitiger Anerkennung auf rationale Überlegungen angewiesen bleibt, um für eine einseitige und kontrafaktische Anerkennung offen zu sein. Die Frage nach Recht und Grenzen von Rationalitätsbedingungen erhält im Kontext des Problems personaler Identität hohes Gewicht. Dass rationale Fähigkeiten (Zurechnungs- und Verantwortungsfähigkeiten) in einer Beobachterperspektive als Ausdrucksformen personaler Identität genommen werden können, berechtigt nicht dazu, sie zu konstitutiven Bedingungsformen der Personalität zu erheben. Für die Übereinstimmung eines Menschen mit sich selbst biete sich eher das Konzept einer (vorreflexiven) Authentizität an.
M. Werren stellt das für die Pflege von Menschen mit Demenz entworfene Konzept »Autonomie des Augenblicks« vor. Die Adressatengebundenheit an Pflegende bzw. Betreuende führe zu einem Konzept fremdgeleiteter Autonomie, das Gefährdungen des Paternalismus ausgesetzt bleibe. Sie stellt deshalb das Problem der Eigenperspektive der Betroffenen und damit das hermeneu-tische Problem ins Zentrum ihrer Überlegungen. Eine narrative Antwort bestünde darin, dass Begleitpersonen ihre emotional-empathischen Wahrnehmungen in Geschichten fassen. Dass hierbei die Frage nach dem Umgang mit einer »bleibenden Fremdheit« aufgeworfen wird, betont auch der Beitrag von A. Ch. Albert, welcher sich mit der Lebensqualität in der Demenz befasst. Die Vfn. rekurriert dazu auf die Phänomenologie des Fremden von B. Waldenfels. Widerfahrnisse lassen Ordnungen, in denen Menschen zuhause sind, überschreiten und stellen Möglichkeiten in Frage. Lebensqualität ist unter veränderten Lebensbedingungen deshalb als Gehaltensein trotz und in bleibender Fremdheit zu fassen.
D. Ritzenthaler/R. Baumann-Hölzle erläutern das Praxisproblem der Patientenverfügung, wenn die in ihr geäußerte Willensbekundung mit den mutmaßlichen aktuellen Willensausdrücken in Konflikt gerät. K. Müller stellt dem modernen auf Autonomie fokussierten Menschenbild ein alttestamentliches Menschenbild gegenüber. Im Begriff der Seele verdichten sich die grundlegenden Bedeutungen von Emotionalität und Eingebundensein in Be­ziehungen. M. Schmidhuber geht die vielfach diskutierte Frage des Identitätsverlusts bei Demenz mit einem narrativen Konzept an. Zu einer narrativ gedachten Identität gehören Brüche und Veränderungen, sie ist auch leiblich vermittelt zu denken. S. Hofstetter geht in einer diakonischen Perspektive vom Konzept selbstbestimmter Teilhabe auch für Demenzkranke aus, muss sich dann aber dem Problem der Artikulation von Wünschen stellen. Im Blick auf die Kommunikation mittels leiblicher Ausdrucksformen verweist er auf die Bedeutung des Essens, auf seine erinnerungsfördernde und gemeinschaftsfördernde Funktion. Die Frage der Sondenernährung de­menzkranker Menschen erhält hier einen bedenkenswerten Hin­tergrund.
D. Schweizer nähert sich der Demenz mittels der hermeneutischen Erschließung des Wahnsinns, welcher letztlich seinen eigenen »Sinn« enthülle. So vermag sie auch verständlich zu machen, weshalb gerade die Demenz zum Brennpunkt von Ängsten und Stigmatisierungsmechanismen werden konnte. Auch bei diesem Beitrag ist das Anliegen greifbar, dass der Thematisierung der De­menz eine Korrekturfunktion im Blick auf bestimmte Ideale des modernen Menschenbilds zugesprochen wird. Der Mensch wird letztlich damit konfrontiert, dass er auf andere angewiesen und durch und durch pathisch-emotional bestimmt ist.
Der leicht lesbare Band bietet ein gutes Panorama verschiedener Fragestellungen, die das Thema Demenz individualethisch und sozialethisch aufwirft. Die Beiträge verbleiben in der Regel in den Grenzen der eigenen Disziplin (theologische und philosophische Ethik, Pflege- und Diakoniewissenschaft) und versuchen gewissermaßen Neues im Alten zu entdecken (Beispiel narrative Identität). Die englischsprachige und interdisziplinär weit gefächerte Diskussion kommt weniger in den Blick – allenfalls bei Schmidhuber.
Der Band macht letztlich auf ein metaethisches Grundproblem ersten Ranges aufmerksam, das im Beitrag von F. Mathwig ins Blickfeld kommt: Einerseits erfordert das Phänomen Demenz die Revision bzw. Neujustierung von Idealen und Leitvorstellungen des Menschseins – andererseits darf eine solche Revision nicht auf eine vordergründige Anpassung hinauslaufen, die Verluste überspielt und wichtige Ideale wie das Ideal rationaler Selbstbestimmung vorschnell preisgibt. Der Band ist daher zu Recht vom An­spruch getragen, dass die Demenz die Bedingungen enthüllt, die das Menschsein überhaupt auszeichnen, etwa die Angewiesenheit auf ein leiblich-emotionales In-der-Welt-Sein, die Angewiesenheit auf Beziehungen und den Widerfahrnischarakter des Lebens.