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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

951–954

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hahn, Susanne, u. Hartmut Kliemt

Titel/Untertitel:

Wirtschaft ohne Ethik? Eine ökonomisch-philosophische Analyse.

Verlag:

Ditzingen: Philipp Reclam jun. Verlag 2017. 276 S. Kart. EUR 22,95. ISBN 978-3-15-011091-1.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Lütge, Christoph, u. Matthias Uhl: Wirtschaftsethik. München: Franz Vahlen Verlag 2017. XII, 268 S. m. zahlr. Abb. = Vahlens Handbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Geb. EUR 32,90. ISBN 978-3-8006-5244-0.


Nicht erst die jüngsten Skandale um die großen und kleinen Wirtschaftsunternehmen in Deutschland und der übrigen Welt und die Intensität des öffentlichen Aufschreis darüber demonstrieren die Dringlichkeit ethischer Orientierung für diesen Teil unserer Lebenswelt. Und so halten – was vor Jahren noch undenkbar war – wirtschaftsethische Lehrveranstaltungen an den Hochschulen Einzug, und der Öffentlichkeit werden wirtschaftsethische Publikationen zu Studienzwecken und zur allgemeineren Orientierung vorgelegt, so auch die beiden hier vorzustellenden Arbeiten.
Dass nun das Lehrbuch von Lütge/Uhl in der renommierten Reihe »Vahlens Handbücher der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften« erscheint, muss als ein großer Erfolg für die noch junge Disziplin der Wirtschaftsethik gewertet werden, aber vor allem auch für die beiden Autoren. Deren Verdienst ist es, in sehr übersichtlicher und didaktisch sehr ansprechender Weise Studierende der Wirtschaftswissenschaft und auch außerökonomische Interessenten durch fünf Kapitel zu führen: »1. Begriffliche Grundlagen«, »2. Historisch-ökonomischer Hintergrund: Vormoderne und Mo­ derne«, »3. Grundlagen und Werkzeuge der Wirtschaftsethik«, »4. Problemkreise der Wirtschaftsethik« und »5. Unternehmensethik«.
Den größten Reichtum entfaltet dabei das Werk in seinem letzten Kapitel, in dem im Gegensatz zur auf die volkswirtschaftliche Makro-Perspektive (16) festgelegten »Wirtschaftsethik« (im engeren Sinne) die breit gefächerten Fragestellungen der Unternehmensethik erörtert werden. Das Spektrum reicht dabei unter der Rubrik »Compliance als ethische Minimalanforderung« (161 ff.) von Korruption, Verstößen gegen Kartellrecht und Datenschutz, zur Erarbeitung von Präventionsmaßnahmen wie Ethikkodizes, »Whistleblowing«-Systemen, Compliance-Schulungen und Beratungen, Due Diligence von Geschäftspartnern bis zur Aufdeckung von und Reaktion auf Fehlverhalten und damit bis zur Compli-ance-Organisation einschließlich dabei zu beachtender Grenzen. Im Anschluss daran werden »Unterschiedliche Perspektiven in Bezug auf Unternehmensverantwortung« vorgestellt (192 ff.), was die Diskussion so unterschiedlicher Konzepte wie von Unternehmensethik als Gewinnmaximierung (192 ff.), auf Basis des ehrbaren Kaufmanns (199 f.) oder als Management moralischer Risiken (205 ff.) bedeutet, wobei als Impulse für Unternehmensethik die Gewinnung von Reputation, Vertrauen und Sozialkapital markiert werden (206 ff.). Den Abschluss des Kapitels bildet das weite Feld der »Corporate Social Responsibility: Ansätze und Kritik« (212 ff.), in dem unterschiedlichste theoretische Konzepte von CSR, seien es Implizite und Explizite, Ethische, Instrumentelle, Integrative oder Politische Theorien und ihre Kritik nicht nur theoretisch durchdrungen, sondern auch mit anschaulichen aktuellen Beispielen illustriert werden. Auch das Kontrastprogramm einer »Corporate Social Irresponsibility« (241 ff.) mit dem Phänomen einer »Corpo-rate Hypocrisy« und dem »Greenwashing« wie etwa der BP-Initia-tive »Beyond Petroleum« (248) wird aufgegriffen.
Im vorangegangenen 4. Kapitel hatten sich die Autoren mit den »Problemkreisen der Wirtschaftsethik« (im engeren Sinne) und da­her mit der volkswirtschaftlichen Makro-Perspektive beschäftigt. Das heißt, sie griffen das Thema »Globalisierung« (109 ff.) mit Fallstudien zur Kinderarbeit und dem weltweiten Verkehr von Nahrungsmitteln auf, aber auch »Armut und Ungleichheit« (120 ff.), »Menschenwürde und Menschenrechte« (135 ff.) und »Nachhaltigkeit« (147 ff.) mit deren ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimensionen, und den Aspekten der Effizienz und Suffizienz (154). Dabei ist beachtlich, dass in dem auf eine »monistische Wirtschaftsethik« (14) oder »Ethik mit ökonomischer Methode« (7) festgelegten Handbuch beim Begriff der »Menschenwürde« nicht nur sein Ur­sprung in der antiken Philosophie, sondern auch in der jüdisch-christlichen Tradition mit der Sonderstellung des Menschen aufgrund seiner »Gottebenbildlichkeit« herausgestellt wird (135).
Immerhin ist der Tenor der Kapitel 2 und 3 ein anderer. Unter »Historisch-ökonomischer Hintergrund: Vormoderne und Moderne« (19 ff.) werden im 2. Kapitel zwar einige knappe Einblicke in »Handlungsethik und Bedingungsethik« (21 ff.), »Die Vorteile des Marktes und des Wettbewerbs« (35 ff.), »Der gerechte Preis« (43ff.) und »Das Zins- und Wucherverbot« (47 ff.) geboten, doch eigentlich nur, um darzulegen, dass es sich dabei um überholte Denk- und Handlungsmuster handele. Und das ist auch der Duktus des darauf folgenden 3. Kapitels »Grundlagen und Werkzeuge der Wirtschaftsethik« (55 ff.), in dem sehr klug unter der Rubrik »Philo-sophische Grundlagen und Werkzeuge« zunächst Deontologie, Konsequentialismus, Überlegungsgleichgewicht, Normenbegrün-dung unter Dissens, Vertragskonzeptionen, Mehrheitsprinzip und Begründung und Deliberation vorgestellt werden, und sodann unter der Überschrift »Ökonomische und sozialwissenschaftliche Grundlagen und Werkzeuge« unter den Themen Rationalität, Gerechtigkeit, Dilemmastrukturen mit den üblichen interessanten Beispielen aus der Spieltheorie Beiträge zu einer philosophischen Handlungstheorie ausgebreitet werden.
So konsequent das im Sinne einer »Ethik mit ökonomischer Methode« (7) auch sein mag, offen muss bleiben, ob damit wirklich traditionelles ethisches Handeln in der Wirtschaft überwunden werden kann und darf. Denn dokumentiert nicht gerade die De-finition der Autoren, »Unternehmensethik als das Management moralischer Risiken« zu verstehen (209), dass man sich als Unternehmen und Mitarbeiter in der Wirtschaft angesichts eines zwar manchmal diskutierten, aber eigentlich sehr konkreten gesellschaftlichen Ethos nicht ausschließlich ökonomisch stringent, sondern auch moralisch zu verhalten hat? Und wird nicht sogar von den Autoren eingangs bekannt, dass ohne diesen traditionellen Hintergrund »Ethik in der globalisierten Welt nicht zu denken« sei (XII)? Jedoch, wie glaubwürdig wird ethisches Handeln, wenn es vor allem darum gehen sollte, »Reputationskapital« (208) zu erreichen, wobei die Moral u. a. durch Reputation zu einem »Produktionsfaktor« werde (15). Wie sollte da dem Verdacht einer Instrumentalisierung der Moral bzw. einer »Corporate Hypocrisy« (246 f.) entgegengetreten werden?
Bedauerlicherweise führt diese Denkweise dazu, dass trotz sorgfältiger Zusammenstellung der unterschiedlichsten wirtschaftsethischen Problemfälle kaum überzeugend Lösungsansätze präsentiert werden. Denn was hilft es, wenn z. B. Korruptionsdelikte (163 ff.) detailliert dargestellt werden, aber weder herausgestellt wird, dass der Schaden hierbei vor allem die Armen trifft, was aufgrund der christlichen Option für die Armen unakzeptabel ist, noch erörtert wird, welche Chancen bestehen, wie man etwa des eigentlich zugrunde liegenden Problems Herr werden kann, was üblicherweise aus christlicher Sicht als Habsucht identifiziert werden kann? Insofern kann dieses Handbuch als vorzügliche und bereichernde Lektüre zur Durchdringung wirtschaftsethischer Fragestellungen gelobt werden. Aber es darf nicht verschwiegen werden, dass hier aus christlicher Sicht maßgebliche Fragen offen bleiben.
Gleich zu Beginn der Vorstellung der Studie Hahn/Kliemt muss vermerkt werden, wie nachdrücklich die Autoren die im Titel gestellte Frage schlicht verneinen: denn ohne Ethik sei die Wirtschaft gar nicht denkbar (139). Insofern handelt es sich bei der Arbeit um eine erfreuliche Verstärkung ethischer Nachdenklichkeit im Bereich der Wirtschaft. Bemerkenswert ist dabei, dass die Autoren nicht die in der philosophischen Wirtschaftsethik gern bemühten vertragstheoretischen oder diskurstheoretischen Konzepte aufgreifen, sondern die Idee des von Rawls herkommenden »Überlegungsgleichgewichts« (218 ff.). Dabei stehe hinter einem solchen »reflective equilibrium« vor allem die Vorstellung, Regeln dadurch zu rechtfertigen, dass sie unter Einbeziehung der »vorsystematischen Praxis« in einem Prozess wechselseitiger Anpassung in einen systematischen und kausal gestützten und argumentationslogischen Zusammenhang gebracht würden. Auf diese Weise dürfe man hoffen, der in der Praxis gewonnenen Erfahrung gerecht zu werden (221). Hilfreich ist dabei einerseits, dass die Verfasser dazu einen detaillierten Katalog »Schritte zur Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts« (234 f.) präsentieren, der allein schon eine Vertiefung lohnte.
Zum anderen ist es interessant, dass und wie sie eigentlich in der Struktur der sieben Kapitel der Studie die Verfahren des »Überlegungsgleichgewichts« aufnehmen. Denn nach recht knappen Ausführungen zu »Prinzipien einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Wirtschaftsethik« (11 ff.) kommen bereits »Exemplarische wirtschaftsethisch- und unternehmensethische Falldiskussionen« (38 ff.) sowie Vertiefungen der Fragen »Manager und Verantwortung« (84 ff.) und »Bindungen« (110 ff.), ehe in »Elemente ethischer Theoriebildung« (141 ff.) ein philosophischer Überblick etwa über utilitaristische Theorien (151 ff.) oder an­- tiutilitaristische universalistische Ethiken (176 ff.) gegeben wird, bevor der verwandte Ansatz eines »Überlegungsgleichgewichts« (218 ff.) vorgestellt wird. Abgeschlossen wird die Arbeit mit dem Kapitel »Wo der Pluralismus endet« (247 ff.) sowie mit Literaturhinweisen, Personenregister und Sachregister.
Bemerkenswert ist, wie konkret und sachkundig die Autoren im Rahmen ihres Ansatzes die »vorsystematische[n] Praxis« einbeziehen, wenn sie exemplarisch in den Falldiskussionen »Vorstandsgehälter und leistungsgerechte Entlohnung« (39 ff.), die »Mannesmann-Übernahme« (60 ff.), »Hedgefonds – ›Heuschrecken‹ oder Nützlinge?« (67 ff.), Wincor-Nixdorf bzw. Grohe (69 ff.) oder Patentrechte und Interessen der »Dritten Welt« (75 ff.) diskutieren. Aber so erkenntnisreich dann die Reflexion über die Verantwortung von Managern im Blick auf Friedmans Shareholder-Ansatz (90 ff.) und Freemans Stakeholder-Ansatz (94 ff.) sowie Pflichten gegenüber einem Einzelunternehmer (100 ff.) oder pluralen Eigentümern (104 ff.) auch ist, wäre doch zumindest ein Hinweis auf die mit hohem Anspruch für die ganze deutsche Gesellschaft, auch die Wirtschaft, in der Präambel des Grundgesetzes verankerte »Verantwortung vor Gott und den Menschen« angebracht gewesen.
Anregend ist die unter der Rubrik »Bindungen« dargelegte Er­kenntnis über das »Ultimatumspiel«, nach dem es offenbar Indizien für eine weitverbreitete »Tugend« der Gerechtigkeit geben soll. Auch solle »Tugend als Gehhilfe« und »Tugend als Lockmittel« (117 ff.133) identifizierbar sein und sich »Moral und Tugend« für den korporierten Akteur Unternehmen (wohl etwa als »Reputationskapital«) lohnen (122). Dabei betonen die Autoren zu Recht und deutlicher als Lütge/Uhl, dass solche Tugend über einen bloßen Marketing-Trick hinaus ernst gemeint und in realen Praktiken geronnen sein müsse (128).
Nachzufragen wäre jedoch, warum angesichts solcher Indizien eines tatsächlich zumindest rudimentär vorhandenen Ethos ähnlich wie bei Lütge/Uhl (63) immer wieder auf den Wertepluralismus (11.16.37.59.86.89.167.206 u. ö.) oder die mangelnde Einmütigkeit in moralischen Fragen (202) hingewiesen wird, als gäbe es nur völlige ethische Beliebigkeit (in Deutschland). Wie sollte das mit der Klage der Autoren zusammenzubringen sein, dass in Bezug auf ihre real wirksame »Ethik des Wirtschaftens« die meisten Bürger Anhänger »gemeinwirtschaftlicher Ideale« seien (45). Und wenn man das nicht vertiefen will, warum wird dann nicht z. B. der Radbruchsche Versuch, letztlich auf »überpositive« Werte blicken zu können oder zu müssen, zumindest diskutiert? Wird damit vielleicht die nach dem Konzept des »Überlegungsgleichgewichts« gebotene Einbeziehung der »vorsystematischen Praxis« nicht ausreichend genutzt? Und die gleiche Frage ist zu stellen, wenn zwar in erfreulicher Weise hervorgehoben wird, dass der freiheitliche Rechtsstaat den Wohlstand und dieser den Wohlfahrtsstaat ermöglicht habe, aber den Wohlfahrtsstaat »als Korrektiv von Märkten« auch hat »nötig werden lassen« (254). Aber warum wird in diesem Zusammenhang in keiner Weise das hier entscheidende Konzept der Sozialen Marktwirtschaft und ihrer – wie Brakelmann oder Jähnichen überzeugend aufgezeigt haben – christlichen Wurzeln erwähnt?
Es sollte von vielen wirtschaftlichen Akteuren die abschließende Mahnung der Autoren zu Herzen genommen werden, dass diese fruchtbare Wirtschaftsordnung nicht von selbst weiter existieren kann, sondern der Förderung (Pflege und Eingrenzung) bedarf. Die hier skizzierte »selbstkritische und faktenorientierte Suche nach Überlegungsgleichgewichten in grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Fragen« (256) sollte dazu einen gewichtigen Beitrag leisten können. Allerdings sollte sie sich im Rahmen ihrer eigenen Konzeption nicht allzu weit von dem entfernen, was in der christlich-abendländischen Tradition bereits vorgelegt ist.