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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

72–75

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pokorn’y, Petr, u. Josef B. Soucek

Titel/Untertitel:

Bibelauslegung als Theologie. Hrsg. von Petr Pokorny’.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1997. IX, 372 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 100. Lw. DM 198,-. ISBN 3-16-146766-3.

Rezensent:

Jens Schröter

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Aufsatzsammlung, in die Petr Pokorny’ zusätzlich zu eigenen Arbeiten eine Auswahl von Beiträgen seines 1972 verstorbenen Lehrers und Vorgängers Josef B. Soucek aufgenommen hat. Die Gliederung unter thematischen Gesichtspunkten führt zu fünf Teilen mit jeweils eigenem inhaltlichen Schwerpunkt, wobei sich in fast jedem Teil Beiträge beider Autoren finden (lediglich TeilIV enthält ausschließlich Arbeiten von Soucek). Dadurch gewinnt der Band ein ganz eigenes, reizvolles Profil, welches ihn zugleich zu einem Stück sonst - aufgrund politischer Umstände im Europa zur Zeit des "Kalten Krieges" - eher wenig beachteter Geschichte der theologischen Wissenschaft des 20. Jh.s macht. Es geht nicht nur um exegetische Detailprobleme (wiewohl auch diesen zwei der fünf Teile gewidmet sind), vielmehr stellt die Frage nach der Verantwortung des Exegeten als Theologen im Nachkriegseuropa eines osteuropäischen Landes einen Schwerpunkt dar, welcher den Horizont im Blick auf die Aufgabe der neutestamentlichen als einer theologischen Wissenschaft weitet.

Dies wird besonders im ersten Teil, der unter der Überschrift "Lebensverhältnis zur Sache" steht, deutlich. P. beschreibt in seinem einleitenden Beitrag "Exegese als Zeugnis" Entwicklungen innerhalb der tschechischen Theologie, für die - neben seinem eigenen - die Namen Soucek und Hromadka eine zentrale Rolle spielen. Er stellt heraus, wie Theologie - wobei der Blick besonders auf die Exegese gerichtet ist - in der besonderen Herausforderung, die das politische System an sie stellte, verantwortet werden musste, und in der sich die tschechischen Theologen vor die Aufgabe gestellt sahen, "Exegese als Zeugnis" zu begreifen. In der Konsequenz führt dies zu dem programmatisch formulierten Anliegen P.s, ihre theologische Aufgabe zu erhalten und zu entfalten, einschließlich einer Warnung davor, die Einbeziehung der - von ihm durchaus als nützlich beurteilten - Fragestellungen aus Linguistik und Literaturwissenschaft zu einer Flucht vor der theologischen Verantwortung werden zu lassen.

Dieser erste Teil wird ergänzt durch einen Beitrag P.s zu Ehren Souceks aus dem Jahr 1992 sowie einen Brief des letzteren an Wilhelm A. Visser’t Hooft, geschrieben in der politischen Krisenzeit des Nachkriegsjahres 1948, die das tschechische Volk und die tschechische Kirche vor eine schwere Bewährungsprobe stellte. P.s Nachzeichnung des theologischen Werdeganges von Soucek sowie dessen im Vergleich mit Hromadka von Beginn an konsequenter ablehnende Haltung gegenüber der marxistischen Ideologie zeichnen ein Stück Theologiegeschichte in der damaligen Tschechoslowakei nach. Es ist ein wichtiges Verdienst P.s, an diese Situation, in der in den osteuropäischen Staaten Theologie unter gänzlich anderen Bedingungen als in den westlichen Ländern getrieben werden musste, zu erinnern.

Der Brief Souceks ist in demselben Sinne ein wichtiges Zeitzeugnis, insofern er aufzeigt, wie in einer Situation der sich nach dem Zweiten Weltkrieg etablierenden neuen Ideologie die Kirche in einem Land wie der Tschechoslowakei ihre Aufgabe neu definieren musste. Soucek bezieht eine klare Position dergestalt, dass sich die Kirche von einer Zusammenarbeit mit dem "neuen Regime", das er als undemokratisch und totalitär beurteilt, soweit als möglich fernhalten sollte. Gerade weil es- wie aus P.s Beitrag klar hervorgeht - Soucek fern lag, einer "Politisierung" der Exegese im Sinn kurzschlüssiger Antworten auf politische Fragen das Wort zu reden, sondern er hier sehr deutlich zu differenzieren wusste, wird seine klare, verantwortungsbewusste Urteilsbildung als Theologe in Bezug auf gesellschaftliche Vorgänge in einer schwierigen Umbruchssituation deutlich.

Der zweite Teil des Bandes ist mit "Hermeneutik" überschrieben und enthält einen Briefwechsel Souceks mit Götz Harbsmeier aus dem Jahr 1944, einen Aufsatz Souceks über "Die Entmythologisierung in der tschechischen Theologie" sowie zwei Beiträge von Pokorny’. Soucek setzt sich in seinem Brief mit der Übernahme Heideggerscher Kategorien in die Exegese bei Rudolf Bultmann auseinander und stellt an diese kritische Anfragen. Seine Besorgnis, eine theologische Abwertung der Bedeutung des irdischen Jesus könne letztlich dazu führen, dass die Entstehung der Christologie gänzlich unverständlich werde, gewinnt dabei vor dem Hintergrund der neueren Jesusdiskussion ungeahnte Aktualität. Der Auseinandersetzung mit Bultmann und der Religionsgeschichtlichen Schule ist auch der Beitrag über den Einfluss des Entmythologisierungsprogramms auf die tschechische Theologie gewidmet (zuerst veröffentlicht in Kerygma und Mythos IV, 1955). Der theologische Einfluss dieses Ansatzes auf die tschechische Theologie lässt sich vornehmlich am Programm des Alttestamentlers Slavomil Danek, einem Schüler Bernhard Duhms, greifen, der das Verhältnis von Mythos und Geschichte an alttestamentlichen Texten diskutiert hatte. Soucek bewertet die hier zum Ausdruck kommende negative Sicht auf die Geschichte kritisch, weil er die Gefahr sieht, dass das der Geschichte enthobene Kerygma letztlich zu einem religiösen Idealismus führe und damit das konkrete Handeln Gottes in der Geschichte nicht mehr wirklich zur Sprache gebracht werde.

Die Beiträge P.s zu diesem Teil stammen aus den Jahren 1995 und 1996 und befassen sich mit den Texten Mk 7,24-30 par. Mt 15,21-28 bzw. Apg 17,16-34 aus hermeneutischer Perspektive. Im ersten Fall steht eine Auseinandersetzung mit historisch-kritischer und strukturaler Analyse sowie mit dem Reader-Response-Criticism im Mittelpunkt, wobei P. dafür optiert, keine dieser Fragerichtungen zu verabsolutieren, sondern ihre jeweilige Produktivität für ein umfassendes Verständnis des Textes zu erheben. Bei dem zweiten Beitrag (der Inauguralrede P.s zur Übernahme des Dekanats der Prager Fakultät am 2. Oktober 1996) geht es um die Frage, welche Aspekte sich für die Frage nach dem gegenwärtigen Ort der Theologie an der Universität aus der Areopagrede gewinnen lassen. Theologie - so P. - hat an der heutigen Universität vor allem eine Zeugnis- sowie eine gegenüber anderen Wissenschaften kritische Funktion wahrzunehmen.

In den Beiträgen des dritten Teils "Biblische Theologie in ihrer Umwelt" rücken die Frage nach der Konzeption einer Theologie des Neuen Testaments sowie religionsgeschichtliche Aspekte in den Vordergrund. Souceks Beitrag zur Kanonfrage (von 1968) wandelt auf den Spuren Bultmanns, wenn er nach derjenigen Überzeugung fragt, die den Kanon zusammenhalte und von daher auch den Maßstab einer innerkanonischen Sachkritik darstellen könne. Er findet diesen Maßstab in Kreuz und Auferstehung - ein Urteil, das im Horizont gegenwärtiger Diskussion um den Ansatzpunkt für eine Theologie des Neuen Testaments sicher kritisch zu reflektieren wäre.

Dies zeigt sich schon in den Bemerkungen P.s, der unter dem Titel "Probleme biblischer Theologie" Grundsätze für die Konzeption einer gesamtbiblischen Sichtweise formuliert. Wichtig erscheint etwa seine Auffassung, der Zusammenhang beider Testamente dürfe nicht als historische Kontinuität gedeutet werden, weil dies der Möglichkeit, das Alte Testament ohne das Neue zu verstehen, letztlich die theologische und historische Legitimität absprechen würde. Wesentlich ist weiter, dass nach P. der Exeget bzw. die Exegetin vor der Aufgabe steht, die "Motive und Sinnstrukturen zu suchen, die die beiden Teile der christlichen Bibel verbinden" (116). Damit wird der Ort einer Biblischen Theologie jenseits der Alternative eines heilsgeschichtlich ausgerichteten Entwurfes und einem bloßen Nebeneinanderstellen der einzelnen Ansätze der biblischen Autoren bestimmt. Bemerkenswert ist schließlich auch, dass es P. zufolge nicht möglich ist, den Begriff "Versöhnung" zum Leitbegriff einer Biblischen Theologie zu erheben, worin ihm m. E. zuzustimmen ist (auch wenn ich, anders als er, apokatastasis und hilaskesthai nicht als griechische Äquivalente des deutschen Wortes "Versöhnung" ansehen würde). Sein Fazit: "Von der Voraussetzung eines positivistischen Wissenschaftsbegriffs her kann also die biblische Theologie nicht konzipiert werden" (119), scheint mir jedenfalls wegweisend zu sein. In ähnliche Richtung gehen seine Überlegungen in dem Beitrag über das Problem der neutestamentlichen Pseudepigraphie.

Die religionsgeschichtlich ausgerichteten Beiträge dieses Teiles (von P.) befassen sich anhand eines Vergleiches von Antigone und Jesus mit dem Wesen des Opfers, griechischen Sprichwörtern im Neuen Testament sowie mit der alten Frage nach dem Ursprung der Gnosis. Der zuletzt genannte, aus dem Jahr 1966 stammende Vortrag belegt zumindest ansatzweise, was P. bereits in seinem einleitenden Beitrag angedeutet hatte, dass er sich nämlich mehr mit gnostischen Texten befasst habe, als es die hier versammelten Aufsätze erkennen ließen. Bezüglich der Entstehung der Gnosis vertritt er in dem hier abgedruckten Beitrag die Auffassung einer Unabhängigkeit vom Christentum, wobei er sich allerdings nicht der These einer vorchristlichen Gnosis anschließt, sondern mit einer Parallelentwicklung rechnet. Von einer jüdischen Gnosis im eigentlichen Sinn möchte er nicht sprechen, vielmehr geht er von einer "jüdisch beeinflußten synkretistischen Gruppe in Ägypten" (165) aus. Dieses vorsichtige, abgewogene Urteil erscheint angesichts der gegenwärtigen Diskussion um diese Problematik weiterhin als eine wichtige Stimme.

In den verbleibenden Teilen finden sich Beiträge zu exegetischen Einzelaspekten, wobei zum einen "Paulus, seine Schüler und seine Gegner", zum anderen "Evangelium und Evangelien" im Mittelpunkt stehen.

Souceks Beiträge in Teil IV befassen sich mit Paulus (Israel und die Kirche sowie 2Kor 5,16), dem Gegenüber von Gemeinde und Welt im 1. Petrusbrief (der hier offenbar unter die Paulusschüler eingereiht wird) sowie dem Verhältnis von Glaube und Werken im Jakobusbrief im Vergleich mit der paulinischen Lösung dieser Frage. Soucek vertritt bezüglich dieses letzten Problems in Auseinandersetzung mit der lutherischen Tradition die Auffassung, dass der Jakobusbrief im weiteren Horizont soziologischer Aspekte der christlichen Gemeinden des ausgehenden 1. Jh.s gelesen werden müsse und nicht durch eine individualisierende Sichtweise eingeengt werden dürfe.

P.s Aufsätze des V. Teils sind der Forschung an Markus und Q, der lk Soteriologie anhand des Gleichnisses vom verlorenen Sohn sowie der Frage nach dem irdischen Jesus im JohEv gewidmet (letzterer in Auseinandersetzung mit der als einseitig betrachteten Sicht einer "doketischen" Christologie im JohEv bei Ernst Käsemann). In exegetischen Detailfragen wären hier etliche Aspekte zu diskutieren.

So wird etwa das MkEv m. E. zu stark aus einer paulinischen Perspektive gedeutet und als Synthese vorausliegender Strömungen betrachtet. Die Deutung der Versuchungsgeschichte in Q als Korrektur einer ÂÖÔ àÓÚ-Christologie überzeugt mich ebenfalls nicht. In der Deutung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn scheinen mir manche Aspekte mehr eingetragen als wirklich aus dem Text erhoben zu sein (so etwa die Deutung des Hungers in Lk 15,14, wo P. einerseits eine Verbindung zu Apg 7,11 und 11,28, andererseits eine solche zu Lk 16,13 herstellt und mit dem Satz schließt: "Die Verlassenheit der Schwachen ist die Kehrseite der Konsumgesellschaft.", S. 305 - hier gehen mir exegetische Beobachtung und deren Reflexion doch zu unvermittelt ineinander über).

Diese Detailfragen ändern jedoch nichts an dem Gesamteindruck. Es handelt sich um einen forschungsgeschichtlich wichtigen Band, der Aspekte exegetischen Arbeitens der tschechischen Kollegen vor und nach dem Prager Frühling versammelt und dadurch nicht nur leichter zugänglich macht, sondern darüber hinaus als eigene Tradition in Erscheinung treten lässt. Durchgehend wird erkennbar, dass Exegese als theologische Aufgabe begriffen wird, die es in der Gesellschaft zu verantworten gilt - und dies ist vielleicht die wichtigste Botschaft dieser Beiträge. Dass es Forscher sind, die in einem atheistisch dominierten Land Osteuropas arbeiten mussten, die diesen Aspekt exegetischen Arbeitens betonen, ist dabei gewiss kein Zufall.

Über exegetische Einzelfragen wird die Diskussion weitergehen müssen - und es ehrt P., wenn er bereits auf S. 11 diesbezüglich vermerkt: "Die weniger günstigen Bedingungen, unter denen wir im Vergleich mit einigen westlichen Kollegen gearbeitet haben, dürfen bei der kritischen Würdigung des fachlichen Beitrags keine Rolle spielen." Der "fachliche Beitrag" braucht sich freilich keineswegs zu verstecken, sondern nötigt, im Gegenteil, Achtung und Respekt ab. Dem Buch sei der Wunsch mit auf den Weg gegeben, dass es dazu beitragen möge, die Relevanz der Exegese für eine hermeneutisch verantwortete Theologie deutlich vor Augen zu stellen.