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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

948–949

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Eiesland, Nancy L.

Titel/Untertitel:

Der behinderte Gott. Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung. Übers. u. eingel. v. W. Schüßler.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2018. 176 S. Kart. EUR 14,90. ISBN 978-3-429-04427-5.

Rezensent:

Thorsten Moos

Fast 25 Jahre nach der Erstausgabe ist ein zentraler theologischer Beitrag zum Thema der Behinderung, Nancy Eieslands »The Dis-abled God« von 1994, nun auf Deutsch erschienen. Die Kirche, so die Ausgangsbeobachtung der Theologin, spielt für Menschen mit Be­hinderung eine bestenfalls ambivalente Rolle: »Anstatt Menschen mit Behinderung zu bestärken, hat die Kirche nicht selten gesellschaftliche Strukturen und Einstellungen unterstützt, die diese wie Objekte des Mitleids und der Bevormundung behandelt haben.« (23) Es bedarf somit einer »Befreiungstheologie der Behinderung« (Un­tertitel), um den Anspruch von Menschen mit Behinderung, als vollgültige Personen anerkannt zu werden, kirchen- und gesellschaftsverändernd einzulösen. Anstelle eines undifferenzierten Rekurses auf »gemeinsame[] menschliche[] Erfahrung« (David Tracy, nach 23) bedarf es dazu einer differenziellen Anthropologie, die die spezifischen Lebenslagen bestimmter Menschen(gruppen) zur Kenntnis nimmt. Grundlegend ist hierfür das sozialkonstruktivistische Verständnis von Behinderung, vermöge dessen Menschen mit Behinderungen als »Minderheitengruppe« (67) mit gemeinsamen Marginalisierungserfahrungen beschrieben werden können. Kirchlich-theologisch ist das allerdings nicht mitvollzogen worden, wie E. am Beispiel einer Resolution der American Lutheran Church von 1980 zeigt. Hier dominiert die individualistische, fürsorglich-objektivierende und insofern stigmatisierende Sicht auf Menschen mit Behinderung.
Vor dieser Negativfolie entwirft E. ihre Theologie der Behinderung. Ihr Ansatz ist, die Erfahrung von Behinderung im Symbolkosmos des Christentums zentral zu verankern. Es geht um die »Erzeugung neuer Symbole und Rituale, mit deren Hilfe Menschen mit Behinderung unsere Körper in Würde bejahen und die Kirche als Gemeinschaft der Gerechtigkeit in Bezug auf Menschen mit Behinderung auf neue Art und Weise begreifen können« (117 f.). Material setzt das Programm gesellschaftlicher Transformation durch Re­symbolisierung am »Christussymbol« (117) an. Die biblische Kernszene ist Lk 24,36–39: »Indem er seinen erschrockenen Freunden seine beeinträchtigten Hände und Füße vorzeigt, wird der auferstandene Jesus offenbar als der behinderte Gott.« Als solcher ist er »die Offenbarung des wahren Menschseins, indem auf diese Weise das Faktum unterstrichen wird, dass das volle Menschsein mit der Erfahrung von Behinderung völlig in Einklang steht.« (126) Damit wird der christliche Topos der Vollkommenheit neu definiert: Dieser soll nicht die Überwindung der Ambivalenzen leiblichen Lebens bezeichnen, sondern das »Überleben« darin, »ohne Selbstmitleid« (127). Vollkommenheit als Hoffnungsziel darf den Erfahrungen des eigenen Lebens nicht nur als kontrafaktisches Ideal gegenübertreten, vor dem die Wirklichkeit als defizient erscheint. Vielmehr muss Vollkommenheit unter den zwiespältigen Bedingungen der Leiblichkeit selbst gedacht werden können – um der Versöhnung willen. Diese »Anerkennung des behinderten Gottes« könne Menschen mit Behinderung »zu einer Versöhnung mit ihren eigenen Körpern und mit der Kirche als Christi Leib befähigen.« (128)
E. nimmt damit das soteriologische Grundproblem nach Angenommensein trotz eigener Unannehmbarkeit auf. Gegenüber der rechtfertigungstheologischen Figur einer Selbstdifferenzierung, die neben dem Unannehmbaren (peccator) den von Gott gerecht Gesprochenen (iustus) glaubt, plädiert sie für eine Figur der Selbstaffirmation, die in allen Defizitzuschreibungen und leidvollen Erfahrungen das wahre Menschsein am eigenen Leib zu identifizieren erlaubt. Das unerlöste Gegenbild ist nicht der in sich verkrümmte, undistanziert-selbstbezogene Mensch, sondern die aufgrund ihrer Körperlichkeit beständig zur abwertenden Selbstdistanz gedrängte Person. Für sie liegt die Befreiung gerade nicht in Selbstdifferenzierung, sondern in Selbstidentifikation. Für diese soteriologische Inversion steht das prägnante Symbol des behinderten Gottes.
Daran sind selbstverständlich Fragen zu stellen: etwa, ob mit der als Befreiung intendierten Ermutigung zur Selbstaffirmation nicht auch Erwartungen an das emotive Selbstverhältnis (ohne Selbstmitleid zu sein) und an die Solidarität mit anderen Marginalisierten (vgl. 121 f.) verbunden sind, die wiederum zum Gesetz werden können. Auch ist allgemeiner zu fragen, ob die Strategie der Resymbolisierung nicht die gesellschaftliche Bedeutung christlicher Symbole wie auch den Einfluss der Theologie auf den christlichen Symbolkosmos überschätzt. Doch das mindert keineswegs die Originalität dieses theologischen Entwurfes.
Der Trierer Philosoph und Tillich-Experte Werner Schüßler hat eine sorgfältige und gut lesbare Übersetzung vorgelegt, der man allenfalls vorhalten kann, dass sie in der Verwendung des generischen Maskulinums nicht mehr den Standards inklusiver Sprache entspricht. Der Band wird vervollständigt durch ein instruktives Vorwort sowie durch Verzeichnisse, die die Erschließung erleichtern.