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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

944–946

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nielsen-Sikora, Jürgen

Titel/Untertitel:

Hans Jonas. Für Freiheit und Verantwortung.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2017. 343 S. m. 24 Abb. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-534-74319-3.

Rezensent:

Konrad Hammann

»Bei der Persönlichkeit des Philosophen hat nur das Interesse: er war dann und dann geboren, er arbeitete und starb.« Mit diesen Worten eröffnete Martin Heidegger sein Aristoteles-Kolleg im Sommer 1924. Sich derart restriktiv auf das Denken eines Denkers zu beschränken, verspricht im Falle von Hans Jonas nur einen begrenzten Erkenntnisgewinn. Denn unter den namhaften Philosophen des 20. Jh.s verkörperte er wie kaum ein anderer die unauflösliche Symbiose von Leben und Werk, die es geradezu nahelegt, der Beziehung zwischen seiner höchst besonderen Lebensgeschichte und den von ihm beschrittenen Denkwegen literarisch nachzugehen. Jürgen Nielsen-Sikora tut dies in seiner Biographie zu Hans Jonas, deren Erscheinen 25 Jahre nach dem Tod des Philosophen eine empfindliche Forschungslücke zu füllen verheißt.
Das Buch enthält, was seine Ausstattung angeht, eine knappe und instruktive Zeittafel, ein Verzeichnis des verwendeten Archivmaterials und der herangezogenen Schriften von Hans Jonas sowie eine Zusammenstellung der zitierten Zeitungsartikel und der benutzten Literatur. Die Darstellung wird durch 24 Abbildungen illustriert und durch ein Namenregister hilfreich erschlossen. N.-S. will »das Zusammenspiel von Leben, Werk und Wirkung des Philosophen Hans Jonas« herausarbeiten (16). Diese Intention verfolgt er in zwei Schritten, zunächst in der biographischen Rekonstruk-tion der Lebensstationen und der Kontextualisierung der wichtigs-ten Publikationen seines Helden, sodann in der Erfassung von dessen Wirkung und Rezeption sowie in einem Kommentar zu Jonas’ Hauptwerk »Das Prinzip Verantwortung«. Diese Aufteilung des Stoffes auf zwei Teile, auf das Leben und das Werk, ist für eine Gelehrtenbiographie gewiss eine mögliche Option, sie birgt aber auch Gefahren, die man durch die durchgängige Verknüpfung von Lebens- und Denkweg von vorneherein vermeiden kann.
Im ersten Teil des Buches folgt der Biograph der Chronologie des von ihm beschriebenen Lebens. Aufgewachsen in einem liberal-jüdischen Umfeld – der Vater betrieb in Mönchengladbach ein Textilunternehmen, der Großvater mütterlicherseits war Oberrabbiner in Krefeld gewesen –, schloss der junge Hans Jonas sich nach dem Ersten Weltkrieg dem Zionismus an. Während des Studiums der Philosophie und der Theologie in Freiburg, Berlin und Marburg hörte er bedeutende Gelehrte. Maßgebliche Bedeutung für seinen eigenen wissenschaftlichen Weg gewannen vor allem Martin Heidegger und Rudolf Bultmann. Jonas wurde 1928 in Marburg promoviert, jedoch hinderte ihn der Anbruch des Dritten Reichs daran, in Deutschland eine akademische Laufbahn einzuschlagen. 1935 emigrierte er nach Palästina, wo er zunächst wissenschaftlich weiterarbeitete, um sich nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs als Soldat in einer britischen Einheit am Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland zu beteiligen. In Palästina lernte er auch seine aus Regensburg stammende Frau Lore Weiner kennen, mit der er drei Kinder haben sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es Jonas, zunächst in Kanada und 1955 in New York beruflich Fuß zu fassen. Dort lehrte er bis 1976 als Philosophieprofessor an der New School for Social Research. In seinen letzten Lebensjahren entfaltete er eine intensive Vortragstätigkeit, die ihn über die USA hinaus in viele europäische Staaten führte.
Hinsichtlich der äußeren Lebensstationen schildert N.-S. manches präziser, als es bisher den von Rachel Salamander aufgezeichneten, 2003 publizierten Erinnerungen des Philosophen zu entnehmen war. Freilich wirkt die wiederholte Korrektur von Fehldatierungen, die Jonas in der Erinnerung unterlaufen waren, sowie von unzutreffenden Angaben in der Literatur recht kleinlich. N.-S. vermag aber in seiner Rekapitulation der Beziehungen, die Jonas zu Freunden, Kollegen und Weggefährten unterhielt, auch weithin Unbekanntes zu vergegenwärtigen. So stellt er etwa seine Freundschaft zu dem Freiburger Soziologen Heinrich Popitz besonders heraus. Dessen Studien zur Geschichte der Technik führten zu einem produktiven Meinungsaustausch zwischen dem Philosophen und dem Soziologen (vgl. 144–146). Andererseits fällt die Re­konstruktion des intrikaten Verhältnisses Jonas’ zu Heidegger und seiner hochemotionalen Beziehung zu Bultmann, den er eben nicht zufällig einmal als seinen »großen Lehrer und Förderer« apos-trophierte, in dieser Biographie weit hinter das zurück, was Jonas selbst dazu in seinen »Erinnerungen« zu berichten wusste. Bei N.-S. bleibt ebenfalls äußerst blass, was Jonas an der umstrittenen Stellungnahme der mit ihm befreundeten Hannah Arendt zum Prozess gegen Adolf Eichmann inhaltlich störte (vgl. 122–124).
Der zweite Teil des Buches setzt ein mit einem Überblick über die große Wirkung, die Hans Jonas in den 1980er Jahren vor allem mit seinem Werk »Das Prinzip Verantwortung« erzielte. N.-S. führt hierzu Stimmen aus der Presse, aber auch Voten von philosophischen Kollegen zu der von Jonas entwickelten Philosophie der Biologie und Natur sowie zu seinem verantwortungsethischen Ansatz an. Inwieweit der in zahlreichen Ehrungen sich widerspiegelnde späte Ruhm des jüdischen Philosophen auch ein Ausdruck für die Selbstwahrnehmung der bundesrepublikanischen Gesellschaft jener Zeit war, wird nicht erörtert. Im Zentrum der zweiten Hälfte dieser Biographie steht ein Kommentar zu dem Werk, das Jonas über seine Disziplin hinaus bekannt machte: »Das Prinzip Verantwortung«. Dieses als solches gewiss hilfreiche Kapitel erfährt noch Fortsetzungen durch Erwägungen zur Aktualität der Jonasschen Ethik sowie durch einen Bericht über die genuin philosophische Rezeption der Gedanken und Impulse des jüdischen Denkers in Deutschland (bei Vittorio Hösle und in der Diskursethik), Frankreich, Italien sowie in den USA.
So sehr die Aufarbeitung des Spätwerkes von Jonas anzuerkennen ist, muss doch gefragt werden, warum N.-S. in seiner Biographie das von Jonas vor dem »Prinzip Verantwortung« erarbeitete und vorgelegte Werk auch nicht annähernd befriedigend vorgestellt hat. Die wichtige, 1929 ausgearbeitete, aber erst 1964 veröffentlichte Studie zu Röm 7 wird gar nicht erst erwähnt. Das Buch über »Augustin und das paulinische Freiheitsproblem« (1930) erfährt nur eine knappe, ganz unzureichende Notiz (vgl. 85). Dass der Biograph dieses Philosophen dessen Dissertation (»Der Begriff der Gnosis«, 1930) offenkundig gar nicht kennt und deshalb mit seinem großen Gnosisbuch von 1934 verwechselt (vgl. 53), erscheint einigermaßen fatal. Liest man dazu einen Satz wie diesen: »Die Gnostiker waren weltfremd« (10), müssen einem starke Zweifel an der Solidität der hier vorgelegten Interpretation von Jonas’ be­kanntlich überaus einflussreicher Gnosisdeutung kommen. Die Mängelliste ließe sich leicht vermehren.
Kurz, die für eine Gelehrtenbiographie unerlässliche Konturierung der maßgeblichen Bücher und Schriften nach ihrem Gehalt wird hier ebensowenig geleistet wie die forschungs- und geistesgeschichtliche Kontextualisierung der Publikationen Jonas’. Diesem Mangel entspricht die sprachliche Gestalt dieser Biographie. N.-S. hat das Leben und das nur teilweise vorgestellte Werk von Hans Jonas ohne erkennbare literarische Ambitionen, dafür aber mit nicht wenigen sprachlichen Verstößen beschrieben.