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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

942–944

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Joas, Hans

Titel/Untertitel:

Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Ge­schichte von der Entzauberung.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2017. 527 S. Geb. EUR 35,00. ISBN 978-3-518-58703-4.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

Walter Benjamin erblickte in Paul Klees Zeichnung Angelus Novus den Engel der Geschichte: Ein Sturm, den wir »den Fortschritt nennen«, treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken zukehrt, während er, mit ausgespannten Flügeln und offenen Mundes, auf den unablässig wachsenden Trümmerhaufen der Geschichte starrt. Max Weber hätte im Angelus Novus vielleicht ein Abbild der Moderne gesehen: Seit Jahrtausenden unaufhaltsam herbeigetrieben von der Kraft der Entzauberung, Rationalisierung und funktionalen Differenzierung blickt sie zurück auf lauter Glaubens- und Sinnverlust. Hans Joas dagegen hält vermutlich den Engel für durchaus manövrierfähig, auf jeden Fall aber Prozessbegriffe wie den der Entzauberung für ungenau und gefährlich, weil sie uns die höchst kontingente Geschichte des Verhältnisses von Religion und Macht als linearen Verlauf denken lassen und uns dazu verführen, der Macht des Heiligen den Rücken zu kehren, die wie bisher auch in Zukunft immense Kräfte und Gegenkräfte wird mobilisieren können.
Darum unternimmt J. den beeindruckenden Versuch, den für das Selbstverständnis der Moderne zentralen Weberschen Begriff der Entzauberung zu entzaubern. Als Alternative dazu skizziert er eine Theorie, die in den Blick nimmt, wie die Erfahrung des Heiligen die Menschen ergreift, sie zu Ritualisierung, Sakralisierung und kollektiver Selbstsakralisierung treibt – und dabei immerfort politische und soziale Macht stiftet, stützt oder in Frage stellt. Max Weber habe wie auch Ernst Troeltsch versucht, die bis dahin erzielten Erträge der geschichtswissenschaftlichen, psychologischen und soziologischen Beschäftigung mit Religion zu synthetisieren. J. zeichnet zunächst jene Erträge nach und schafft dabei zugleich die Grundlagen für ein Verständnis von Religion als erfahrungszentriert, individuell und kollektiv, durch Zeichen vermittelt und in Praktiken verkörpert.
Den Durchbruch zu einer rein profanen Universalgeschichte der Religion markiere David Humes The Natural History of Religion von 1757 mit seinen – nicht unwidersprochen gebliebenen – Grundthesen: Der vor dem Monotheismus existente Polytheismus wurzele psychologisch in der Furcht vor Tod und Unglück, wobei die Geschichte ein ständiges Schwanken zwischen Polytheismus und Monotheismus durchziehe. Seinem Wesen nach erweise sich der Polytheismus als toleranter, weil er neue Götter leichter zulassen und integrieren könne.
In der Religionspsychologie habe 1902 das Buch The Varieties of Religious Experience von William James eine revolutionäre Wende hin zur empirischen Untersuchung religiöser Erfahrung bewirkt. Religiöse Lehrgebäude, Institutionen und Rituale erscheinen von daher als Versuche, »das Ergriffensein von etwas, das den Menschen übersteigt«, zu artikulieren, zu organisieren und auf Dauer zu stellen.
In der Soziologie entwickelte J. zufolge Émile Durkheim in Die elementaren Formen des religiösen Lebens von 1912 eine ritualzentrierte Religionsanalyse. Er habe Religion nicht als Gottes- oder Götterglaube, sondern als Ensemble gemeinschaftlicher Überzeugungen und Praktiken in Bezug auf das Heilige definiert. Quelle der Heiligkeit sei das kollektive Ritual. In der Kollektiverfahrung fühle sich das Individuum über sich hinausgetragen. Es deute sich diesen Ausnahmezustand als das Wirken höherer Mächte und fühle sich affektiv an die Attribute der Situation gebunden, in der es zur Selbststeigerung oder gar zum Selbstverlust kam. Daraus erwüchsen Heiligkeit und Ideale, deren Inhalte von Nächstenliebe bis Nation sehr unterschiedlich sein könnten, ohne die aber keine Gesellschaft auskomme, weil jede ein Bild von sich selbst brauche und dessen Entstehung eng mit Idealbildungen verknüpft sei.
Danach wendet sich J. unter der Frage »Vielfalt der Idealbildung oder Prozeß der Entzauberung?« Troeltsch und Weber zu. Troeltsch gehe vom »Faktum der Idealbildung« aus, »von der empirischen Tatsache, daß im geschichtlich-gesellschaftlichen Leben notwendig Ideale entstehen«. Für das Studium dieser dynamischen Prozesse habe er eine implizite Methodologie entwickelt, die J. als wegweisend zu verdeutlichen sucht, auch um Troeltsch als Soziologen aus Webers Schatten zu holen. Seine Methode habe ihn u. a. zu dem Befund geführt, »daß die großen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts unabhängig eintraten von der religiösen Bewegung«, und sein historistisches Geschichtsverständnis habe ihn davor bewahrt, »ganze Zeiten und Gruppen nur als Vorbereitungsstufen für ein in der Historie doch nie auffind-bares Absolutes zu betrachten« – beides Troeltsch-Zitate. Die Ge­schichte des Christentums habe er weder als schrittweise Verwirklichung christlicher Ideale noch als deren schrittweisen Verlust verstanden und nachgezeichnet. Der christliche Weltgegensatz breche, so Troeltsch, »aus den religiösen Grundgedanken und aus der Selbstauflösung jedes rein innerweltlichen Optimismus im­mer neu hervor« – eine Absage an Webers Säkularisierungstheorie und sein Entzauberungsnarrativ, und eine, die J. für überzeugender hält als Webers Ansatz.
Diesem Narrativ komme in Max Webers Werk anerkanntermaßen eine Schlüsselstellung zu. Der Begriff Entzauberung habe eine erstaunliche Rezeptionskarriere gemacht; aber es herrsche Uneinigkeit und Unklarheit, was er eigentlich bedeute. J. unterzieht die Stellen, an denen bei Weber von Entzauberung die Rede ist, einem close reading und kommt zu dem Ergebnis, »daß wir für die von Weber als Entzauberung bezeichneten geschichtlichen Prozesse drei verschiedene Begriffe benötigen: Entmagisierung, Entsakralisierung und Enttranszendentalisierung«. Allerdings habe gerade seine Uneindeutigkeit das Narrativ der Entzauberung so wirkungsvoll gemacht, weil Weber damit Geschehnisse verknüpfen konnte, »die von den Propheten des Alten Testaments über die Reformation und die Aufklärung bis zur tiefen Sinnkrise Europas im sogenannten Fin de Siècle« reichten. Der Begriff Entzauberung ebne jedoch völlig unterschiedliche Prozesse ein und sei vielfältigen Einwänden ausgesetzt. Beispielsweise lasse sich die Reformation durchaus auch »im Sinne einer Steigerung der Sakralität Gottes, seiner verstärkten Transzendentalisierung, und nicht nur einer Entmagisierung der Welt« verstehen. Darum gelte es, den Begriff der Entzauberung zu überwinden.
Ein besserer Ausgangspunkt für den Diskurs über die Macht des Heiligen sei der Begriff der »Achsenzeit«. Karl Jaspers habe dargelegt, wie »um die Mitte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts« unabhängig voneinander in allen großen Religionen und Philosophien ein mythisches Zeitalter zu Ende gegangen sei. Das Göttliche, bisher als der Welt immanent oder parallel zu ihr gedacht, sei nun als das Eigentliche, ganz Andere, Wahre dem defizitär Weltlichen entgegengesetzt worden. Das habe zu einer unerhörten Spannung zwischen dem Mundanen und dem Transzendenten geführt und politisch-sozial ein gewaltiges kritisches Potential eröffnet. J. zeichnet die Verarbeitung der Achsenzeit-Idee nach und gelangt mit Ian Morris und Robert Bellah zu dem Schluss:
»Das Neue an der Achsenzeit, wie immer wir es genau fassen: als moralischen Universalismus, als Kritikfähigkeit, als höhere Reflexivität, […] dieses spezifisch Neue tritt jedenfalls zum Alten hinzu, ohne dieses je ganz zu verdrängen oder zu ersetzen. In den Religionen […] lebt weiter oder kann weiterleben, was für diese vor der Achsenzeit bestimmend war: das Ritual und der Mythos.«
In einem gesonderten Kapitel widmet sich J. den »gefährlichen Prozessbegriffen« wie Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung. Er prüft deren Verwendung in Webers »Zwischenbetrachtung« und kommt zu dem einleuchtenden Befund, »daß in dem Text in seiner enormen Verknappung und Thesenfülle viele der verwendeten Begriffe, auch die zentralen, unklar und ungeklärt verwendet werden«. Darum gelte:
»An die Stelle der Vorstellung von linearen Prozessen der Säkularisierung oder Entzauberung muß die Analyse des Wechselspiels von Sakralisierung und Desakralisierung, eines Wanderns des Sakralen treten; an die Stelle von ›funktionaler Differenzierung‹ und ›Rationalisierung‹ die Analyse von ergebnisoffenen Prozessen des Wechselspiels institutionalisierter Handlungslogiken.«
J. schließt seine Untersuchung ab mit der Skizze einer Theorie der Sakralisierung und der Geschichte kollektiver Selbstsakralisierungen. Er geht vom Faktum der Idealbildung als einer anthropologischen Konstante aus – der »Tatsache also, daß Menschen in ihrem Zusammenleben wesentlich auch von Idealen geleitet sind, von Vorstellungen über das durch und durch Gute und das durch und durch Böse«. Dabei komme es zu immer neuen, kontingenten, kreativen Fusionen von Religion und Macht; und dabei herrsche vor und nach der Entstehung des Staates »die immerwährende Tendenz zur kollektiven Selbstsakralisierung«. Nicht Religion sei anthropologisch universal, wohl aber die Erfahrung der Selbsttranszendenz und die »sich daraus ergebenden Zuschreibungen von ›Heiligkeit‹«, und sei sie dämonisch-diabolisch getönt. Historisch seien bisher vier Formen des Verhältnisses von Sakralität und Macht erkennbar: die kollektive Selbstsakralisierung egalitärer Stammesgesellschaften, die Herrschersakralisierung, die Sakralität von Volk oder Nation und die Sakralität der Person als Quellgrund der Menschenrechtsidee. Religionen könnten auch weiterhin »sowohl Hindernis wie Treibmittel kollektiver Selbstsakralisierung sein«.
Abschließend bekennt sich J. zu einem moralischen Universalismus, der die Sakralität der Person hervorhebt und das Wohl aller Menschen, kommender Geschlechter und der Welt insgesamt im Blick behält – eine nützliche Kursempfehlung.