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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

938–939

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Arnold, Karl Günter

Titel/Untertitel:

Das kosmische Datum. Untersuchungen zum Subjektivitätsbegriff bei Hans Jonas.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 408 S. Kart. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-05286-8.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Karl Günter Arnold entwickelt in seiner bei Tom Kleffmann und Kristian Köchy gearbeiteten Dissertation seine Fragestellung ausgehend von Jonas’ kaum rezipierter, von ihm aber als Hauptwerk bezeichneter Aufsatzsammlung »Organismus und Freiheit« (dt. 1973; postume Neuausgabe 1994 als »Das Prinzip Leben«). In der von Jonas vertretenen Philosophie des Lebens bildet das Organische von Anfang an das Geistige vor. Es ist das Kennzeichen dieses Ansatzes eines integralen Monismus, dass das Leben – und mit ihm die Subjektivität – seit dem Entstehen des Kosmos in ihm potentiell angelegt ist. Von hier aus versteht sich auch der Titel dieser Untersuchung.
Mit Fokus auf den Subjektivitätsbegriff bedeutet dies, dass Jonas die Subjektivität gegen die Hauptströmungen der abendländischen Philosophie – und im Buch präzisiert an den Positionen von Manfred Frank, Jürgen Habermas und Dieter Henrich (14–46) – »als Inbegriff eines dynamischen und sich ausfächernden Prozesses am Leben« (13) versteht. A. führt im Folgenden diese Auffassung aus, wobei sein Forschungsbericht (261–296) belegt, dass Jonas’ Subjektivitätsbegriff mit der Ausnahme von Sebastian Poliwoda (1994) nicht untersucht worden ist. Dieses Defizit zu beseitigen, macht das Verdienst der Untersuchung von A. aus. Es geht ihm um folgenden Nachweis: »Dass die Philosophie des Organischen und die Philosophie des Geistes umgriffen werden von der Philosophie des Lebens als ihrem Oberbegriff; und des Weiteren, dass es nicht nur keine Subjektivität ohne Organismus, sondern auch keinen Organismus ohne Subjektivität gebe«, denn Jonas verstehe die Subjektivität als »Movens alles Lebens« (296).
A. arbeitet sorgfältig heraus, dass der Lebensbegriff den Zugang zu Jonas’ Philosophie eröffnet (47–133), da er Leben als Fundament für die Erkenntnis ansieht, indem es sich durch seine prozeduralen Vollzüge selbst interpretiert. In seinem nächsten Schritt stellt A. die wesentlichen Momente der Subjektivität dar (135–259), als die er die Freiheit, die Identität, die Transzendenz und den Geist benennt. Jonas erhebt diese wesentlichen Momente der Subjektivität seit dem Ursprung des Lebens aus dem Prozess des Stoffwechsels und sieht sie im Menschen kulminieren. Die benannten Momente sind »vor allem Bewusstwerden stoffwechselnd bereits vorgegeben: wir leben längst frei, identisch, transzendierend und unsere Welt kritisch prüfend, bevor wir uns dessen bewusstwerden« (259). Derart vollzieht sich dann die menschliche Subjektivität. Nach dieser grundlegenden Bestimmung des Subjektivitätsbegriffes mit seiner Gründung im Prozess des Metabolismus schließt A. zwei weitere Reflexionsgänge an, indem er zunächst die »Subjektivität im Prinzip Verantwortung« (297–345) und dann die »Subjektivität Gottes« (347–393) untersucht.
A. stellt ausführlich Jonas’ ontologische Begründung der Verantwortung dar: Er weitet den Urtyp der Verantwortung am Beispiel der Eltern des Säuglings – bei dem sie im Sinn eines »Sieh, und du weißt« verantwortlich handelnd wirken – auf das ganze Leben aus. Da Jonas die Subjektivität bis in die einfachsten Anfänge des Lebens aufzeigt, ist für ihn das Bestreben zu sein eine ontologische Tatsache der Natur, die zu erfüllen die das Leben und das Sein erhaltende Dimension der Verantwortung beschreibt. Dies führt ihn zur Annahme der Zweckhaftigkeit zunächst des menschlichen Lebens und lässt ihn den Schluss einer Zweckmäßigkeit der ganzen Natur machen, da sie dem Zwecklosen, dem Nihilismus überlegen ist und nochmals zur ontologischen Begründung der Verantwortung führt. Die Subjektivität zeigt in diesem Denkrahmen ihre besondere Bedeutung an der moralischen Handlung infolge der Rea­lisierung des eigenen Verantwortungsgefühls gegenüber wahrgenommenen Bedürftigkeiten als Tatsachen des Lebens.
Abschließend behandelt A. folgende religionsphilosophische Aufsätze Jonas’: »Vergangenheit und Wahrheit. Ein später Nachtrag zu den sogenannten Gottesbeweisen« (1990/91) und »Unsterblichkeit und heutige Existenz« (dt. 1963) mit Bezug auf »Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme« (1984). Da diese Aufsätze von einem werdenden Gott sprechen, liegt ihnen die Subjektivität Gottes zugrunde, wie A. konstatiert. Dabei kommt den Menschen durch ihre Verantwortung für die Welt zugleich Verantwortung für Gott zu, da Gott in Jonas’ Rezeption der lurianischen Kabbala sich während des Werdeprozesses der Welt aus dieser zurückgezogen hat und sie einst wieder in dem Zustand in sich aufnehmen wird, in den die Menschheit sie geführt hat. Deshalb ist die Verantwortung für die Welt zugleich eine für Gott. Hier merkt A. kritisch an, menschliches Sein könne nicht göttliche Existenz tragen. Diese Kritik expliziert A. durch seine »theologische Antwort« (383–393), die das menschliche Sein nicht nur als organisches Gewordensein versteht, sondern als Schöpfung Gottes, was A. dann unter dogmatischem und neutestamentlichem Bezug auf die Trinitätslehre, die Hamartiologie und die Soteriologie begründet.
Diese letzten kritischen Hinweise überzeugen mich nicht ganz, da sich Jonas’ religionsphilosophisches Denken nicht konfessionell versteht, sondern als seinen Versuch, seiner Gegenwart den Gottesgedanken überhaupt nahezubringen. Da Jonas als Philosoph an seiner Frage nach Gott festhält, sollte man ihn nicht an einer bestimmten Dogmatik messen, sondern diese Frage allein als das spekulative Suchen nach dem Ganzen betrachten, wie es schon in der Denkfigur des integralen Monismus deutlich wurde. Abgesehen davon hat A. anhand des Subjektivitätsbegriffes eine immanente Interpretation der Philosophie Jonas’ vorgelegt, die durch ihren Standpunkt den bisher vorgelegten Untersuchungen eine in sich schlüssige Perspektive hinzufügt, ohne dass ich aber die Zulässigkeit der anderen Betrachtungs- und Untersuchungsweisen bestreiten möchte. A. hat die wichtige Sekundärliteratur verarbeitet und gemäß seiner Intention stimmig interpretiert. Wer den mitunter sehr schwierigen Schreibstil von Jonas kennt, weiß die klare Darstellung von A. zu schätzen.
Leider findet sich im Literaturverzeichnis kein Hinweis auf die von Dietrich Böhler u. a. herausgegebene »Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas«, Freiburg/Darmstadt 2009 ff.