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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

930–932

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paul Tillichs »Systematische Theologie«. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. VIII, 334 S. = De Gruyter Studium. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-11-045223-5.

Rezensent:

Gunther Wenz

Durch die mehrbändige Rabbitreihe, in welcher er anhand der wechselvollen Geschicke seines Protagonisten Harry »Rabbit« Ang-strom die gesellschaftlichen Befindlichkeiten US-Amerikas zwischen den späten 1950er Jahren und der Millenniumswende in poetischer Dichte zu erfassen und zu reflektieren suchte, ist John Hoyer Updike als Großschriftsteller weltberühmt geworden. Dass er daneben auch ein bemerkenswerter Rezensent und Künstler der kleinen Form war, belegt u. a. eine essayistische Besprechung der beiden biographischen Werke von Eberhard Busch bzw. Wilhelm und Marion Pauck zu Karl Barth einerseits und zu Paul Tillich andererseits (J. Updike, Gemeinsam zur Straßenbahnhaltestelle, in: Ders., Amerikaner und andere Menschen. Essays. Aus dem Amerikanischen von W. Winkler, Hamburg 1987, 270–282; die Originalausgabe erschien 1983 in New York unter dem Titel »Hugging the Shore«). Wer Updike kennt, wird sich nicht wundern, dass sein Interesse namentlich in Blick auf Tillich weniger den theologischen als vielmehr den außertheologischen Faktoren seiner Lebens- und Wirkungsgeschichte galt. Genau umgekehrt verhält es sich in dem anzuzeigenden Band: Tillichs Biographie tritt ganz hinter sein Werk, näherhin hinter das opus magnum seiner dreibändigen »Systematischen Theologie«, zurück, die nicht in individual-, sondern in strikt problemgeschichtlicher Perspektive kommentiert wird. Die Textgrundlage der Erklärung bildet die deutsche Übersetzung des zunächst auf Englisch publizierten (1951; 1957; 1963) Werkes, die zwischen 1955 und 1966 erschienen ist; da seine Erstauflage kurz nach Drucklegung vom Autor zurückgezogen wurde, wird der erste Band der »Systematischen Theologie« nach der Zweitauflage von 1956 zitiert. Seinen Aufbau lässt sich der Kommentar im Wesentlichen von der Gliederung der Tillichschen Dogmatik vorgeben: Einleitung ( M. Murrmann-Kahl); Vernunft und Offenbarung (W. Schüßler; E. Sturm); Sein und Gott (F. Wittekind; J. Dierken); Existenz und Christus (St. Dienstbeck; G. Neugebauer); Leben und Geist (P. Schüz; Chr. Danz); Geschichte und Reich Gottes (J. Lauster; H. Matern). Ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Namen- und Sachregister sind beigegeben.
In seiner Einleitung hat der Herausgeber nach einer knappen Umschreibung des Hauptanliegens des Sammelwerkes, nämlich Gedankengang, argumentative Entfaltung und Begründung der »Systematischen Theologie« vor dem Hintergrund der Problem- und Werkgeschichte dem Leser zu erschließen (vgl. 1), die Genese des Tillichschen opus magnum vom ersten theologischen Systemversuch des jungen Theologen 1913 über die Dogmatik der Marburger und Dresdner Jahre bis hin zu den nach seiner Emigration in die USA zum Wintersemester 1936 am Union Theological Seminary in New York begonnenen, in den Folgejahren regelmäßig wiederholten viersemestrigen Vorlesungszyklus »Advanced Problems in Systematic Theology« in Grundzügen skizziert. In ihrer seit 1940/41 dargebotenen fünfteiligen Fassung bildete die Kollegreihe die Grundlage der publizierten Version der »Systematic Theology«. Sie bestimmt entsprechend auch die Gliederung ihrer deutschen Fassung. Gleichwohl fällt es, wie Danz eigens vermerkt, nicht leicht, die Aufbaulogik der Tillichschen Dogmatik genau zu er­schließen, da sich die Anordnung des dogmatischen Stoffs auf vielfältige Weise überlagert (vgl. 10). Zu den materialen Strukturproblemen gesellt sich die Schwierigkeit, den förmlichen Status der Korrelationsmethode genau zu bestimmen, nach welcher der Stoff in allen fünf Teilen der Dogmatik geordnet ist. Darauf hat M. Murrmann-Kahl in der nötigen Deutlichkeit hingewiesen, dessen Beitrag zur Einleitung der Systematischen Theologie zu den aufschlussreichsten im gesamten Band gehört und das nicht zuletzt deshalb, weil darin die systeminternen Gründe benannt sind, warum in der bisherigen Forschung »konkurrierende Deutungsmus-ter« (33) des Tillichschen Hauptwerkes entstanden sind. In der ihm eigenen Klarsicht fügt Murrmann-Kahl hinzu: »Diese divergierenden Perspektiven auf Tillichs Systematische Theologie werden auch den hier gegebenen Kommentar zu den Einzelpassagen unverkennbar prägen.« (Ebd.)
Die gegebene Prognose wird durch die Lektüre des werk- und problemgeschichtlichen Kommentars zu Tillichs »Systematischer Theologie« rundum bestätigt. Unter den begegnenden Deutungsmustern lassen sich sowohl das selbstbewusstseins- und freiheitstheoretische, das kritisch-offenbarungstheologische oder das religionstheoretisch-selbstreferentielle des Glaubens in der Geschichte wiederentdecken, deren Prototypen Murrman-Kahl ur­sprünglich durch Falk Wagners, durch meine und durch die Tillichdeutung von Christian Danz repräsentiert findet. Im Falle von Danz, der nicht nur eine werkgeschichtliche Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband, sondern auch einen Spezialkommentar zur Gegenwart des göttlichen Geistes und die Zweideutigkeiten des Lebens in STh III, 134–337, geschrieben hat, versteht sich das von selbst. Seine Interpretation der Tillichschen Pneumatologie folgt den Linien, die er in seiner Studie von 2000 zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich »Religion als Freiheitsbewusstsein« vorgezeichnet hat. Gleichwohl enthält Danz’ Beitrag auch Ansätze, welche geeignet sind, überkommene Deutungsmuster untereinander auszugleichen und zu vermitteln sowie zu einer das Gesamtwerk Tillichs umfassenden Deutungsperspektive zu gelangen. Insbesondere infolge der Editionstätigkeit von Erdmann Sturm, der in dem Band mit einem Beitrag zur Wirklichkeit der Offenbarung (STh I, 129–189) vertreten ist, hat sich der Schwerpunkt der jüngeren Tillichforschung »zunächst auf die deutsche Zeit verschoben« (32). Dabei traten immer deutlicher die »ständigen Umbesetzungen« (ebd.) hervor, denen zentrale Begriffe Tillichschen Denkens unterliegen. Die Frage, »die sich an solche Beobachtungen anschließt, lautet«, um nochmals Murrmann-Kahl zu zitieren, »ob das nur nachrangige Akzentuierungen ein und desselben Verständnisses oder doch substantielle Veränderungen des ganzen Konzepts sind« (33).
Der Herausgeber des Sammelbandes hat in seinem Separatbeitrag die von Murrmann-Kahl aufgeworfene Frage im Horizont der Pneumatologie der »Systematischen Theologie« zu beantworten versucht. Zwar habe diese erst verhältnismäßig spät, nämlich Anfang der 40er Jahre, als eigenständiges Lehrstück Aufnahme in die Gesamtkonzeption gefunden, während sie bis dahin als Epilegomenon der Christologie bzw. als Prolegomenon der Eschatologie fungierte. Dennoch bilde der pneumatologische Geistbegriff »ein Element, dem geradezu eine Schlüsselfunktion für dessen (sc. Tillichs) gesamte Theologie zukommt« (228). Ich selbst habe in meiner 1979 publizierten Münchener Dissertation »Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs« dafür plädiert (vgl. dort 235 ff.), Tillichs Theologie, und zwar in ihrer Gesamtheit, von der Pneumatologie her, ja als Pneumatologie zu interpretieren und ihre Genese nicht im Sinne einer mehr oder minder zusammenhanglosen Aufeinanderfolge verschiedener Perioden, sondern als bei allem Wandel einheitlich zu verstehen. Auch Danz erklärt, dass die Pneumatologie des opus magnum »grundlegende Motive der frühen Geistphilosophie« (236) beibehalte, und konstatiert, dass der sie fundierende Geistbegriff ein Element bilde, dem »geradezu eine Schlüsselfunktion« (228) für Tillichs Gesamtwerk zukomme.
Trifft die Danzsche These zu, dann wird sich die künftige Tillichforschung vor allem auf das Problem der Verfassung des Tillichschen Geistbegriffs und auf die Frage zu konzentrieren haben, wie sich, um in Anschluss an Hegel zu reden, subjektiver, objektiver und absoluter Geist zueinander verhalten. Die Beiträge in dem Kommentarband können im Verein mit ihrem – durchweg eingelösten – Versprechen, eine problemorientierte Einführung in Tillichs Dogmatik zu geben, in Bezug auf die Dringlichkeit dieser Frage sensibilisieren, und sie tun es auch. Mögliche Antworten aber werden vorzugsweise dort zu suchen sein, wo Tillichs Systemkonzeption ihren Anfang nahm, nämlich in den Problemkonstellationen der nachkantischen Philosophie und Theologie des Deutschen Idealismus, welcher – und zwar nicht erst nach Walter Schulzens, sondern schon nach Tillichs Urteil – im Denken des späten Schelling seine Vollendung gefunden haben soll. In diesem Kontext werden die entscheidenden Weichenstellungen in Bezug auf Tillichs Systemkonzept und auch im Bezug darauf gestellt, wie sich dieses zu demjenigen Karl Barths verhält. Was beider persönliches Verhältnis betrifft, so soll der nach einem letzten Zusammentreffen mit dem Kirchlichen Dogmatiker 1963 in Basel in die Neue Welt zurückgekehrte Systematische Theologe Tillich gemäß Updike gesagt haben: »›Barth und ich sind wieder Freunde!‹ Nach Beweisen gedrängt, erwiderte er: ›Er hat mich zur Straßenbahnhaltestelle gebracht.‹« (J. Updike, 281) Der Titel der einschlägigen Rezension des Rabbitdichters nimmt auf diese Episode Bezug.