Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2018

Spalte:

926–929

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bergner, Gerhard

Titel/Untertitel:

Um der Sache willen. Karl Barths Schriftauslegung in der Kirchlichen Dogmatik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 386 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 148. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-56445-5.

Rezensent:

Gregor Etzelmüller

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Fout, Jason A.: Fully Alive. The Glory of God and the Human Creature in Karl Barth, Hans Urs von Balthasar and Theological Exegesis of Scripture. London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2015. 224 S. Geb. £ 90,00. ISBN 978-0-567-65943-9.


Die Studie von Gerhard Bergner, eine überarbeitete Fassung seiner Zürcher Dissertation, die von Christiane Tietz betreut worden ist, macht Lust, einmal wieder die exegetischen Exkurse der Kirchlichen Dogmatik zu lesen, da sie zum einen exemplarisch den Gehalt dieser Exkurse dokumentiert, zum anderen die Bedeutung der exegetischen Arbeit für die Gewinnung des dogmatischen Urteils in Barths Dogmatik herausarbeitet. Wer Barths Exegesen liest, der schaut gleichsam dem Dogmatiker Barth bei seiner Arbeit über die Schulter. Barth selbst hat einmal die Frage nach seiner theologischen Methodik wie folgt beantwortet – und dieses Zitat steht auch am Beginn der Arbeit B.s: »If I understand what I’m trying to do in the Church Dogmatics, it is listen to what Scripture is saying and tell you what I hear.« (15)
B. will in seiner Arbeit zeigen, »dass die Genese bestimmter dogmatischer Entscheidungen in der KD nur dann angemessen verstanden und nachvollzogen werden kann, wenn die exegetischen Exkurse […] in der Interpretation der KD mit besonderer Sorgfalt berücksichtigt werden.« (15; vgl. 91) B. will nicht weniger als Barths Schriftauslegung, die unter anderem als vorkritisch, nachkritisch, nebenkritisch, metakritisch und unkritisch bezeichnet worden (vgl. dazu C.2.1) und insofern wohl in der Tat »immer noch unverstanden« (Michael Trowitsch) ist, in ihrer Methodik zu durchschauen und verständlich zu machen. Dabei leitet B. das Interesse, angesichts der sogenannten Krise des protestantischen Schriftprinzips Wege zu erkunden, wie die systematische Theologie reflektiert mit biblischen Texten und Überlieferungen in ihrer eigenen Arbeit operieren kann. Er steigt deshalb nachvollziehbar mit Barths eigener Schriftlehre aus KD I/2 ein, deren Bedeutung für Barths Exegese sich schon darin zeige, dass in den folgenden Bänden der KD der »Umfang und Stellenwert der exegetischen Exkurse« deutlich zunehme (18). Der ausführlichste exegetische Exkurs in KD I um­fasse lediglich vier Seiten (vgl. 18, FN 17).
Die Darstellung von Barths Schriftlehre ist sachangemessen und pointiert. B. betont Barths »Charakterisierung der Schrift als Zeugnis der Offenbarung«, die »zum einen den Unterschied zwischen der Offenbarung selbst und der sie bezeugenden Schrift zum Ausdruck« bringe und zum anderen »die zentrale Funktion der Schrift im Raum der Kirche« hervorhebe (57). Dass die Schrift Menschen zum Wort Gottes werde, vollziehe sich »nicht darauf hin, daß der Mensch nach der Bibel, sondern daraufhin, daß die Bibel nach dem Menschen gegriffen hat« (KD I/1, 113). Insofern komme es im hermeneutischen Prozess zu einem Subjektwechsel, durch welchen die Schrift ihre Leserinnen und Leser auslege. Dieser Subjektwechsel könne zwar nicht inszeniert werden, aber die Dogmatik könne diesem in ihrer Arbeit insofern entsprechen, als sie sich »immer wieder von den biblischen Texten anregen« (91) und kritisieren lasse (vgl. 349). So werde dafür gesorgt, »dass die dogmatische Arbeit mehr ist als ein Kreisen des Dogmatikers um seine eigenen Gedanken« (92).
Dass Barth sich in diesem Sinne immer wieder neu von den biblischen Überlieferungen hat inspirieren lassen, demonstriert B. anhand ausgewählter Exegesen der Kirchlichen Dogmatik. Schon in der Gotteslehre lasse sich beobachten, dass Barth sich durch die biblischen Überlieferungen Themen vorgeben lasse, die in zeitgenössischen Dogmatiken kaum beachtet worden seien (vgl. 96), etwa die Rede von der Geduld Gottes. Dabei erschließe sich Barth das Phänomen, indem er sich auch solchen Erzählungen zuwende, in denen nicht explizit von Gottes Geduld die Rede sei, die aber Barths Verständnis derselben, »einem anderen […] Raum und Zeit für seine eigene Existenz« zu lassen (46), entsprechen. Indem die alttes-tamentlichen Texte zugleich Gottes Geduld als auch die mangelhafte menschliche Umkehrbereitschaft konstatieren, stellen sie vor d ie Frage, ob Gott auch angesichts der Hartherzigkeit der Menschen geduldig sei und bleibe. Diese »im Alten Testament offen gelassene Frage« werde durch die Christusverkündigung des Neuen Testaments positiv beantwortet (vgl. 113).
Im Blick auf die Erwählungslehre (KD II/2), die »beinahe zur Hälfte aus exegetischen Exkursen besteht« (132), arbeitet B. das traditionskritische Element von Barths Schriftauslegung heraus. Aufgrund seines Schriftstudiums komme Barth zur »Ablehnung der Lehre von der doppelten Prädestination« (326). Dabei lasse sich Barth gerade auch vom Alten Testament leiten: »Am Beispiel von Kain, Ismael, Esau u. a. zeigt Barth, inwiefern auch die scheinbar Verworfenen jeweils von der fürsorgenden Liebe Gottes erhalten werden.« (139) Erneut begegne man hier dem bereits vertrauten Schema der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament: Das Alte Testament werfe Fragen auf, die innerhalb des Alten Testamentes nicht beantwortet würden, auf die aber »das Evangelium von Jesus Christus eine mögliche Antwort bietet« (147). B. möchte einerseits das Recht einer vom Christusgeschehen herkommenden Lektüre des Alten Testamentes – als einer möglichen Antwort auf die alttestamentlich offen gelassenen Fragen – aufzeigen, andererseits aber auch die Relativität dieser Lesart – als eben nur einer möglichen – herausstellen, neben der etwa jüdische Auslegungen, die »den letzten Schritt einer christologischen Auslegung nicht gehen«, ebenfalls möglich wären (149, FN 111). Ob auch Barth es so gemeint und gesehen hat? B.s sympathische Bestimmung, dass sich Barths christologische Auslegung des Alten Tes-taments zwar nicht »als die von den Texten einzig mögliche, wohl aber als die vom Christusgeschehen her notwendige Auslegung versteht« (147, Anm. 101; vgl. 334–336), lässt sich so bei Barth jedenfalls explizit nicht belegen.
Anhand von Barths Kommentar zu Genesis 1–2 (KD III/1) zeigt B. zum einen, dass Barth das exegetische Handwerk keineswegs verachtet, vielmehr auf exe-getische Sekundärliteratur zurückgreift und im engeren Sinne selbst exegetisch arbeitet (173), zum anderen, dass auch eine biblisch geschulte Dogmatik nicht vor Fehlabstraktionen gefeit ist. Indem Barth das Geschlechterverhältnis von der deuteropaulinischen Verhältnisbestimmung von Christus und seiner Gemeinde her deute, schreibe er der biblischen Schöpfungserzählung, welche die Gleichrangigkeit der Geschlechter betone, eine »prinzipielle Ungleichheit« ein (216, vgl. 325). Angesichts dieses Befundes möchte ich fragen, ob es entgegen Barths Lesart des Alten vom Neuen Testament her nicht auch die Möglichkeit einer Infragestellung neutestamentlicher Konzepte durch alttestamentliche Überlieferungen geben müsste.
Mit großer Sympathie und Sorgfalt wendet sich B. den narrativen Exegesen in der Sündenlehre zu. Obwohl die Narratologie erst nach Barth entwickelt worden sei, könne man seine Nacherzählungen begründet als »narratologisch informierte Paraphrasen« verstehen (251). Zu Recht betont B., dass sich ein geläufiges Missverständnis der Barthschen Theologie, nach der diese die Gnade als ontologisches Prinzip verstehe, nur einstellen konnte, weil man die petit gedruckten narrativen Exkurse, die die Dramatik der Bundesgeschichte zum Ausdruck bringen, überlesen habe (vgl. 265).
Dass Gnade kein Prinzip, sondern »eine konkrete Geschichte« ist (299), verdeutliche auch Barths Auslegung von Röm 7, in der Barth einen nicht narrativen Text narrativ auslege, wodurch es ihm gelinge, die immer neu anhebende Dramatik der Rechtfertigung zu entfalten (vgl. 282). Durch einen Vergleich mit den früheren Auslegungen von Röm 7 in Barths Römerbriefkommentaren zeigt B., dass Barth nicht einfach bei den einmal gewonnenen exegetischen Einsichten stehen geblieben ist, sondern auch diese sich im­mer wieder durch erneutes Schriftstudium hat korrigieren lassen.
Aufgrund von Barths »Respekt gegenüber der kanonischen Ge­stalt« (236) der Texte spiele deren historisch-kritische Untersuchung in dessen Auslegungen nur »eine untergeordnete Rolle« (320; vgl. 324). Man kann wohl sagen: Wo das Interesse an unterschied-lichen Schichten des Textes das Interesse an den theologischen Aussagen der Texte verliert, verliert umgekehrt Barth das Interesse an der historisch-kritischen Exegese. Problematischer erscheint mir, dass nach Barth »die Aufnahme religiöser Vorstellungen aus der Umwelt des Alten und Neuen Testaments in erster Linie in Abgrenzung und Kritik geschehen« (325). Hier wäre die Frage zu stellen, wie sich eine biblische Theologie sachangemessen zur Religionsgeschichte ins Verhältnis setzen kann.
B.s Arbeit entfaltet eindrucksvoll die Vielschichtigkeit von Barths Schriftauslegung und dokumentiert anhand der ausgewählten Beispiele, dass die exegetischen Exkurse die dogmatische Gedankenentwicklung in Barths Kirchlicher Dogmatik prägen und vorbereiten. Seine Ausgangsthese hat er also nachvollziehbar be­gründet. Gegenüber der postulierten Krise des protestantischen Schriftprinzips könne man anhand von Barths Schriftauslegung erkennen, »wie fruchtbar und gewinnbringend die Auseinandersetzung mit den biblischen Texten für die Erfassung und Bearbeitung theologischer Probleme – auch unter den Bedingungen der Neuzeit – sein kann.« (336)
Entgegen der allgemeinen Tendenz der Arbeit begegnet am Ende – wie B. selbst herausstellt: »insbesondere im Verlauf [des] Schlussteils« (349) – eine scharfe Kritik: Man gewinne bei Barth den Eindruck, »als laufe die Beschäftigung mit den biblischen Texten am Ende auf eine vollständige Harmonie zwischen den Aussagen der Texte und den eigenen dogmatischen Aussagen hinaus« (340). Dazu sei zweierlei angemerkt: Zum einen hat Barth in der Erwählungslehre zu Beginn seiner Auslegung von Röm 9–11 betont, dass die Darstellung der Erwählung der Gemeinde zwar »an Röm. 9–11 gemessen sein« wolle, es aber »nicht zu erwarten [sei], dass es zu einem Beleg aller unserer eigenen Sätze gerade aus diesem Text kommen werde, wie denn auch nicht jedes Element dieses Textes in unseren eigenen Sätzen zur Aussprache kommen kann« (KD II/2, 222). Dieses Eingeständnis einer Differenz zwischen Schriftauslegung und Dogmatik entnehme ich aber auch dem eingangs zitierten Wort Barths zu dessen Methodik, das B. in diesem Kontext erneut zitiert. Barth setzt nicht ein schlichtes »and« zwischen Hören und Weitersagen (so 341), so als würde die Dogmatik nur formulieren, was die Schrift ihr sagt. Barth fügt vielmehr ein »I«/ ein »ich« ein. Mich erinnert dieses späte Wort Barths an dessen frühere Ausführungen zum Gewissen: Das Gewissen sage mir zwar in undialektischer Weise, was Gott mir sage, aber indem es das mir sagt, bricht sich der Spruch des Gewissens in meinem Hören, dem Hören des Sünders, der ich immer noch bin (vgl. Ethik II, 400). Eben deshalb müsse ich mein Hören der ethischen Kritik durch die anderen aussetzen. Entsprechend gilt: Die Schrift bezeugt Gott in seiner Offenbarung, aber ob die Dogmatik recht hört, was die Schrift ihr sagt, muss stets kritisch hinterfragt werden. Aus dieser Misere aber gibt es nur einen Ausweg – und hierin bin ich mit B. ganz einig: die erneute Zuwendung zur Schrift gerade auch in selbstkritischer Absicht (vgl. 349).
Entsprechend muss und will sich auch Barths Theologie immer wieder an den biblischen Überlieferungen messen lassen. Eine solche kritische Lektüre Barths im Licht der biblischen Überlieferungen bietet die Arbeit von Jason A. Fout, eine in Cambridge verfasste Dissertation, die von David F. Ford betreut worden ist. Im Licht einer – explizit als theologisch benannten – Exegese einschlägiger biblischer Texte (Ex 33–34; Joh; 2Kor) kritisiert F. Barths Verhältnisbestimmung von göttlicher Herrlichkeit und menschlichem Handeln, welches Barth nur als »›straight-line‹ obedience« (2 u. ö.) zu fassen vermöge.
Auf der Linie von Bergners Kritik, dass die von Barth suggerierte Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen seiner biblischen Lektüren und seinen dogmatischen Erkenntnissen das kritische Dazwischen-Fragen erschwere, kritisiert F., dass Barths Verständnis des Glaubensgehorsams jegliche Form eines »faithful questioning« ausschließe (84). Zu Recht weist er darauf hin, dass gerade auch, wenn ein Mensch sich von der Schrift infrage stellen lasse, in diesem auch neue Fragen entstehen:
»›How do I know that Jesus Christ is the Word of God?‹ or ›How do I know that there is a God who reveals Godself, and in just this way?‹ may be a ques-tion put by the cynic or sceptic; it may also arise not against faith, but with-in it, as one sits in the shadow of the Scriptures, before the face of God, fully cognisant of one’s capacity for self-deception.« (77)
Was die Lektüre von F.s Arbeit ermüdend macht, ist der Sachverhalt, dass er immer und immer wieder seine Kritik an Barth (und Hans Urs von Balthasar) wiederholt. Er ist weder an (vielleicht erst auf den zweiten Blick zu entdeckenden) Ausführungen der beiden Autoren, die seiner Lesart derselben widersprechen, interessiert noch differenziert er seine Kritik im Laufe seiner Studie aus. Es bleibt beständig bei dem Vorwurf eines heteronomen Gehorsamsverständnisses, das menschliche Handlungen wie Nachfragen und Reflektieren ausschließe. Es ist von Barths Schriftverständnis her geboten, auch Barths Theologie beständig der Kritik durch die Schrift auszusetzen. Doch allgemein gilt: Man sollte es sich mit der zu kritisierenden Position nicht zu leicht machen, damit die Kritik wirklich gehaltvoll ausfällt. Ein angemessenes Vorgehen stellt in diesem Sinne Barths Auseinandersetzung mit den Reformatoren dar: Obwohl er »sich gerade aufgrund seiner Schriftauslegung in zentralen dogmatischen Themen in flagranten Widerspruch zu deren Position« setzt, sind seine Bezugnahmen auf die »Bibelexegese der Reformatoren durchgehend von hohem Respekt geprägt« (Bergner, 326).