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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

920–921

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schwager, Johann Moritz

Titel/Untertitel:

Autobiographische Schriften und kleinere Reisebeschreibungen über Westfalen. Hrsg. u. kommentiert v. F. Stückemann.

Verlag:

Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017. 446 S. = Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, 73. Reihe Texte, 35. Kart. EUR 29,80 ISBN 978-3-8498-1257-7.

Rezensent:

Marco Stallmann

Die Erforschung der theologischen Volksaufklärung des 18. Jh.s hat seit einigen Jahren in dem westfälischen Landpfarrer, Publizisten und Schriftsteller Johann Moritz Schwager (1738–1804) einen der aktivsten Protagonisten wiederentdeckt. Den Anstoß dafür gab und gibt Frank Stückemann mit umfangreichen Beiträgen zu den Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen: Nach der 2009 erschienenen Dissertation und einem 2013 herausgegebenen Tagungsband, die Schwager als »Aufklärer ohne Misere« (Bd. 36) bzw. »Licht in Westphalen« (Bd. 55) würdigten, folgten Editionen seiner Romane (Bd. 54) und Briefe (Bde. 56 und 64). Diese Reihe wird durch die vorliegende Quellenedition fortgesetzt, in der 42 autobiographische Schriften und Reisebeschreibungen Schwagers in chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens zwischen 1780 und 1804 dargeboten werden. Eine ausführliche Einleitung des Herausgebers, eine knappe Kommentierung und ein Namenregister er­gänzen die Textdarstellung.
In den Aufsätzen, deren Umfang zwischen 2 und 31 Druckseiten beträgt, verbinden sich landesgeschichtliche Entwicklungen mit volksaufklärerischen Fragestellungen, beispielsweise in der »Nachricht von einer hysterischen Jungfer in Lengerich […] die es mit dem Teufel zu thun haben will« (51). Hier diagnostiziert Schwager im Jahr 1783, dass es angesichts des in gewissen Landstrichen noch immer verbreiteten Aberglaubens insgesamt besser um die westfälische Aufklärung stehen könnte. Die Debatten um die metaphysische Existenz des Teufels und das damit verbundene Menschenbild zeigen Schwager als Aufklärungstheologen, der sich gegen pietistische Frömmigkeitsbewegung und bildungsfernen Traditionalismus aus-drucksstark positionierte. In seinen tiefgehenden Auseinandersetzungen mit den soziokulturellen Gegebenheiten des ländlichen Lebens, wie er sie u. a. in seiner Jöllenbecker Kirchengemeinde vorfand, stand für den Pfarrer die Frage im Mittelpunkt: »Wie kann der Prediger sich das Zutrauen des gemeinen Mannes erwerben?« (196) Über das pastoraltheologische »Menschenstudium« (375) hinaus hielt er beispielsweise auch pädagogische, landwirtschaftliche oder medizinische Kenntnisse im Umgang mit Gemeindemitgliedern für sehr förderlich. Dass Schwager selbst medizinisch bewandert war und sogar Pockenimpfungen in seiner Gemeinde vornahm, geht aus seiner Schrift über »Galvanismus und Schutzblattern in Jöllenbeck« (366) hervor. Von dem nördlichen Bielefelder Bezirk aus unterhielt Schwager auch weitreichende Beziehungen zu aufklärerischen Theologen und Schriftstellern, wenngleich seine Reisebeschreibungen von den verschiedensten Eindrücken, insbesondere im Raum Minden-Ravensberg, inspiriert sind. Seine Reiseziele nahm er multiperspektivisch wahr: Im westfälischen Halle (vgl. 324 ff.) etwa interessierte ihn nicht nur die kirchlich-religiöse Lebenswelt, sondern auch der Rohstoffhandel, das Handwerk und das Schulwesen. »Oeffentliches Wohl« (272) galt ihm als übergeordnete Zielsetzung seines pastoralen Wirkens. Das autobiographische Schreiben nutzte Schwager wie viele seiner Zeitgenossen als Kommunikationsform aufklärerischen Selbstbewusstseins, wobei er nach Ansicht des Herausgebers durchaus Genrekompetenz unter Beweis stellte. Seine Le­bensbeschreibungen verraten zudem aufschlussreiche Details, etwa über sein Studium bei den Aufklärungstheologen Johann Salomo Semler und Johann August Nösselt oder über seine ausgedehnte Re­zensententätigkeit für die Allgemeine Literatur-Zeitung in Jena (vgl. 234 ff.). Gerade aufgrund dieser vielfältigen Bezüge Schwagers im Rahmen der Kirchengeschichte des 18. Jh.s wäre allerdings eine umfassendere Einordnung der Quellenedition in die Forschungslandschaft wünschenswert gewesen.
In der Einleitung wird die Quellenauswahl und Schwerpunktsetzung auf das Spätwerk Schwagers begründet, die nicht zuletzt ein bewusstes Qualitätsurteil des Herausgebers zum Ausdruck bringt. Die an dieser Stelle ebenfalls angeführten Editionsprinzipien beschränken sich auf einige wenige Punkte wie die Textwiedergabe in originalgetreuer Orthographie und die stillschweigende Verbesserung offenbarer Schreibfehler. Beim Vergleich der Textdarstellung mit den angegebenen Originalausgaben fallen jedoch zahlreiche Ungenauigkeiten in der Transkription auf. Hinzu treten formale Probleme wie Rechtschreib- und Satzfehler, von denen insbesondere die editorische Einleitung und die bibliographischen Angaben bzw. Kommentare im Fußnotenapparat nicht befreit sind. Mag der inhaltlich fokussierte Leser über diese Stellen noch hinwegsehen, so wird auch sein Lesefluss spätestens durch die wiederholt auftretenden Satzbrüche (bereits in der ersten Fußnote!) deutlich gestört. Solche formalen Schwächen zu beseitigen, hätte einer Edition, die die Quellengrundlage der Aufklärungsforschung zu er­weitern beabsichtigt, ebenso gutgetan wie eine nachvollziehbare und sinnvolle Gliederung.
Hier liegt nämlich das eigentliche Anliegen des Herausgebers: Die westfälische Kirchengeschichtsschreibung aus ihrer weitgehenden Fixierung auf den Pietismus zu befreien und ein Quellenmaterial bereitzustellen, das sich in der Forschung nicht länger ignorieren lässt. An diesem Material können nicht nur die theologischen Debatten zwischen Aufklärung und Pietismus, die sich im preußischen Westfalen lokalisieren lassen, historisch untersucht werden. Auch verdeutlichen Schwagers autobiographische Schriften und Reiseberichte die weitgehende Erweiterung des aufklärerischen Popularisierungsinteresses auf die ländliche Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s in anschaulicher Weise. Trotz der genannten Auffälligkeiten ermöglicht die Publikation ein differenzierteres Verständnis der von Pfarrern getragenen Volksaufklärung durch die Bereitstellung größtenteils interessanter und aufschlussreicher Quellen. Indes bleibt zu hoffen, dass diese schließlich auch zum Gegenstand einer regen kirchenhistorischen Interpretationspraxis werden.