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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

917–920

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Roos, Merethe

Titel/Untertitel:

Enlightened Preaching. Balthasar Münter’s Authorship 1772–1793.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2013. VII, 280 S. = Brill’s Series in Church History, 62. Geb. EUR 120,00. ISBN 978-90-04-24883-0.

Rezensent:

Markus Wriedt

Balthasar Münter (1735–1793) gehört zweifellos nicht zu den be­kannten Aufklärungstheologen. Dennoch ist er ein hervorragendes Beispiel für die europäische Dimension aufgeklärten Denkens und die transnationale Ausbreitung evangelisch-aufgeklärten Denkens. Geboren in eine durchaus wohlhabende Kaufmannsfamilie in Lübeck studierte er ab 1754 in Jena Theologie. 1757 habilitierte er sich und brachte die nächsten Jahre als Adjunkt der philosophischen Fakultät zu. Bekannt wurde er durch 25 Reden (1759–1762) über die Hoffnung, die er in seiner Freimaurerloge hielt. Als Hofdiakon und Waisenhausprediger wurde er vom Fürsten nach Gotha berufen und diente ab 1763 als Superintendent in Tonna. Aufgrund einer Gastpredigt in seiner Heimatstadt berief man ihn 1765 zum Prediger an die deutsche St. Petrikirche in Kopenhagen. Bereits 1769 wurde er Mitglied der dänischen Königlichen Akademie der Wissenschaften. Vor allem als Prediger, sodann aber auch als Reformer des Schul- und Armenwesens in seiner Gemeinde erfreute er sich hohen Ansehens. Einen besonderen Nachlass stellen die minutiösen Protokolle seiner insgesamt 38 geistlichen Un­terredungen mit dem zum Tode verurteilten Johann Friedrich Struensee dar. Münter starb im Jahr der Französischen Revolution in Kopenhagen.
Merethe Roos promovierte mit dieser Untersuchung im April 2010 in Oslo in norwegischer Sprache. Für die Drucklegung wurde sie leicht verändert und ins Englische übersetzt. R. versteht Münter als »a typical representative for the theological currents in Denmark-Norway during the time span under consideration here, each of which had different political conditions.« (3) Insofern spielt nicht allein seine homiletische Qualität, sondern die Verbindung von politischem, gesellschaftlichem und theologischem Problembewusstsein und einer aufgeklärten Lösungssuche eine entscheidende Rolle in ihrer Untersuchung. Methodisch bekennt sie sich zu einer Melange aus literarisch-philologischen Ansätzen in Verbindung mit den Fragestellungen der Cambridge School of History, insbesondere Quentin Skinner. R. ordnet ihre Arbeit sorgfältig in den zugegebenermaßen schmalen Rahmen bisher geleisteter Forschungsarbeit und betont die Problematik, anhand eines Quellencorpus, das im Wesentlichen auf einen Autor zurückgeht, die komplexen politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen in Dänemark im letzten Drittel des 18. Jh.s zu ergründen. Insgesamt lassen sich vier Themenbereiche herauskristallisieren, die zum Verständnis der Intentionen des Verfassers von zentraler Bedeutung sind: a) die lehrhaften Stellungnahmen zu aktuellen Debatten ( dogmatic currents), b) das Verständnis eines das ganze Leben durchdringenden Gottesdienstes (the understanding of the divine service), c) alternative Wege zum Erlangen transzendentaler Erfahrungen (alternative ways to strive for transcendent experiences), und schließlich d) Predigten als selbständige Literatur- bzw. Textgattungen (sermons as textual entities). (19)
R. beschreibt in ihren vier Analyseschritten insgesamt 21 Jahre kontinuierlicher Predigttätigkeit unter wechselnden politischen Bedingungen – zunächst die Zeit des einflussreichen Hofrates und Kanzlers Høegh-Guldberg zwischen 1772 und 1784 und sodann un­ter dem Grafen Bernstorff zwischen 1785 und 1793. Am Beginn seiner Tätigkeit steht auch die Entmachtung und Hinrichtung des aufgeklärten Reformers Johann Friedrich Struensee (1737–1772). Wiewohl durchaus mit der Aufklärung sympathisierend musste Münter in seiner Verkündigung den schmalen Grat zwischen geforderter Loyalität zu Regierung und Krone einerseits, und andererseits der Wahrheit des Evangeliums und der impliziten Kritik an gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen gehen. Offensichtlich ist ihm das gelungen: »Through his sermons and teaching, Balthasar Münter shows himself to be a minister with strong roots in neology, but also as someone who adapts his preaching to the reigning political restrictions.« (145)
Sorgfältig zeichnet R. das predigend-literarische Schaffen von Münter in die zeitgenössischen Kontexte ein, wobei sie in nicht unerheblichem Maße auf Urteile der Sekundärliteratur angewiesen ist. Die Neuorientierung der Aufklärungsforschung (51–57) wird dabei ebenso verschliffen wie die politische Wertung der Struensee-Affäre und ihrer politischen Folgen. Interessant und sicherlich noch weiter zu diskutieren sind die Einschätzungen der dänischen Kirchengeschichte aus norwegischer Perspektive.
Die chronologische Anlage der Predigtanalysen erlaubt es, graduelle Entwicklungen und Unterschiede bzw. Akzentsetzungen zu markieren, welche das Profil des Predigers zwischen den Polen von Staat und Kirche erkennen lassen. Dabei bewährt sich die engmaschige Textanalyse, insofern nur das »close reading« der deutschsprachigen Quellen die Bezüge zu den komplexen und mit zahlreichen Identitätsmarkern versehenen Ereignisse und Prozesse aufzudecken im Stande ist. (146) Dabei profiliert R. durchaus überzeugend ihre Untersuchung von den vieldiskutierten Thesen Jonathan Israels (2001–2011) und seiner Behauptung einer radikalen Aufklärung. Sie vermag Münter vielmehr als vorsichtig taktierenden Prediger ohne den Zwang zur radikalen Positionierung – und Profilierung – zu zeichnen. Das gilt nicht nur für die ersten Jahre unter Høegh-Guldberg, der sichtlich mit aufgeklärten Ideen sympathisierte, aber auch die Unruhe nach dem Umsturz Struensees zu befrieden hatte, wie auch unter seinem Nachfolger Bernstorff, dessen Reaktion noch liberaler ausfiel. Sehr konsequent zeichnet R. die theologischen Explikationen von Münter in den Kontext der europaweiten theologischen Aufklärung ein und benennt insbesondere Spalding, Jerusalem und Klopstock als wichtige und einflussreiche Gesprächspartner. Dabei folgt sie den semantischen Spuren, welche die Lektüre dieser deutschen Aufklärer in den verkündigenden Texten von Münter hinterlassen haben (245 f.).
Dadurch erhält ihre Arbeit eine besondere Note: Es wird sicher, dass das aufgeklärte Netzwerk noch lange vor einer abschließenden Beurteilung steht. Noch fehlen wichtige Beiträger, und die bekannten Knotenpunkte der aufgeklärten Debatten sind auch jenseits der Grenzen des Alten Reiches (Berlin, Halle, Göttingen) zu finden, wiewohl bestens mit diesen verknüpft. Unter Bernstorff vermag Münter diese Akzentuierung noch sehr viel stärker vorzunehmen (211). Zugleich operiert er sehr viel öffentlicher mit den Begriffsfeldern von Freiheit. Dazu nimmt er auch Semlers Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion explizit auf und verwendet sie in den Diskussionen um die Gottesdienstreform und liturgischen Entwicklungen. Dabei changiert seine Intention nach R. zwischen individueller Erbauung und der verkündigenden Bestätigung ge­sellschaftlicher Entwicklungen und ihrer theologischen Bewertun g.
Nach 1785 drängt die aufgeklärte Debatte sehr viel mehr in die Öffentlichkeit, als das noch unter Høegh-Guldberg möglich war. Subtil arbeitet R. hierbei die Rolle Münters heraus, der nicht zum Vorreiter aufgeklärter Reformen, aber eben auch nicht zum loyalen Advokaten der Reaktion verkommt. Somit avanciert er durchaus zum innovativen Aufklärer im Gewande des erbaulich-konsensorientierten Predigers. Das wird insbesondere in seinen Öffentlichen Vorträgen sichtbar, in welchen R. eine praktische Variante einer gelungenen Akkomodation nachzuweisen vermag: »Münter’s Oeffentliche Vorträge become examples of how the environment not allows for other ways of presenting the Chris-tian message.« (251) Weniger diese Technik, als vielmehr ihre hohe Publizität ließen zahlreiche Schriften von Münter zu Vorlagen für dänisch-norwegische Pastoren werden, die sich an ihnen, etwa im Sinne der alten Postillen, orientieren konnten. Damit nimmt R. Münter aus dem Fokus seiner intellektuellen und geistesgeschichtlichen Alleinstellung. Vielmehr wird er zum Beispiel einer breitenwirksamen und nachhaltigen Aufklärungstheologie in der dänisch-norwegischen Doppelmonarchie. Sie greift hierzu explizit auf die Forschungen von Robert Darnton zurück und sieht sich in ihren Analysen durch dessen Ansatz einer Geistesgeschichte »from below« bestätigt.
Vor dem Hintergrund der Debatte um Jürgen Habermas’ »Strukturwandel der Öffentlichkeit« erläutert R. die Stellung von Münter als eines gelehrten Theologen, der zwischen Innovation und Tradition nicht nur pendelt, sondern Öffentlichkeit herstellt, welche diese Spannung trägt und so zum nachhaltigen Entwicklungsgang aufgeklärter Theologie in Skandinavien beiträgt. (255)
Die Arbeit leistet einen methodisch immer noch innovativen Zugang zur Interpretation aufgeklärter Predigt. Dabei spielt die Tatsache, dass der geographische Ort dieser Predigt jenseits der großen Zentren der europäischen Geistesgeschichte liegt, kaum eine Rolle. Moderne Publikationstechniken und die Etablierung eines intellektuellen Netzwerkes erlauben den kommunikativen Austausch über nationale, bürokratische und schließlich auch politische oder gesellschaftliche Grenzen hinweg. Ein wichtiger Beitrag im Kontext der noch zu schreibenden Predigtgeschichte der theologischen Aufklärung in Europa, dem man eine breite Rezeption wünscht.
Nur am Rande sei bemerkt, dass die Arbeit in dem Spannungsfeld mehrerer europäischer Sprachen (Deutsch, Norwegisch, Dänisch und Englisch) verfasst wurde. Die dabei erforderliche Übersetzungs- und Transformationsarbeit ist nicht zu unterschätzen und führt hin und wieder zu Interferenzen, die manche Formulierung irritierend und des Nachdenkens wert machen. Das ist zugleich ein Hinweis auf das komplexe Sprachgeschehen, das nicht zuletzt auch die Predigten des Protagonisten dieser Studie auszeichnet. Diese Dimension wird in den semantischen Analysen nur am Rande gestreift, dürfte aber bei der Gesamtwürdigung des Werkes von Münter von erheblicher Bedeutung gewesen sein.