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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

910–912

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Voigt-Goy, Christopher

Titel/Untertitel:

Potestates und ministerium publicum. Eine Studie zur Amtstheologie im Mittelalter und bei Martin Luther.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. VIII, 207 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 78. Lw. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152762-3.

Rezensent:

Christopher Spehr

Obgleich die Amtsthematik ein relevantes und spannungsreiches Thema der Kirchen- und Theologiegeschichte ist, war eine vertiefte Bearbeitung dieses Feldes in den vergangenen Jahren trotz ökumenischer Brisanz eher in den Hintergrund geraten. Konnten beispielsweise zu Martin Luther immerhin einzelne grundlegende Beiträge vorgelegt werden, so unterblieb eine vertiefte Auseinandersetzung mit den mittelalterlichen Referenzquellen auf evan-gelischer Seite fast völlig. Es ist daher ein großes Verdienst der vorgelegten Wuppertaler kirchengeschichtlichen Habilitations schrift, dass verschiedene mittelalterliche Konzeptionen des kirchlichen Amtes erschlossen und der Amtskonzeption des jungen Martin Luthers gegenübergestellt werden. Dem Autor, Christopher Voigt-Goy, gelingt dies in zwei großen Kapiteln auf nur 191 Textseiten, was aufgrund der Kürze für eine heutige Qualifikationsschrift ge­radezu sensationell ist. Überhaupt kommt die problemgeschichtlich ausgerichtete Studie erfrischend gut lesbar da­her, indem sich V.-G. beispielsweise nur auf die wesentliche Literatur in den An­merkungen beschränkt. Selbstbewusst und die eigene Meinung nicht verbergend führt er den Leser durch die Thematik.
Das erste große Kapitel widmet V.-G. den mittelalterlichen Perspektiven seit dem 12. Jh. Ziel dieses Teiles ist es, »einen Einblick in die Vielgestaltigkeit der Amtstheologie mittelalterlicher Katholizität« zu gewinnen (7). Exemplarisch wählt V.-G. hierzu das Dekret Gratians (8–24), die Amtslehre des jungen Thomas von Aquin (24–44) sowie die Ansätze von Johannes Gerson (45–68) und Gabriel Biel (68–84). Eindrücklich beschreibt V.-G., wie nach dem Investiturstreit das Amt in den Einflussbereich des Kirchenrechts rückt, terminologisch im Dekret Gratians aber noch in den Anfängen steckt. Zwei Konzeptionen arbeitet er aus dieser um 1140 entstandenen Kirchenrechtssammlung des Magisters Gratian heraus: die Konzeption der Amtsstellung mit ihrer Verbindung von ordo und officium (neun Officia werden als liturgische Ämter gezählt) sowie die Konzeption der parochialen Amtsausübung, die das Ordnungsgefüge von potes-tas und auctoritas im praktischen Vollzug pointiert. Im Dekret bleibt die Verbindung beider Konzeptionen zueinander offen, die in der Kanonistik der Zeit immerhin zu einer Differenzierung von ordo und iurisdictio führt. Wie die Theologie mit dieser Problematik um­geht und die Unterscheidung von Weihe- und Jurisdiktionsgewalt zu einer geschlossenen kirchlichen Amtsvorstellung entwickelt, wird am Beispiel Thomas von Aquins gezeigt. Anhand des Kommentars zu den Sentenzen von Petrus Lombardus arbeitet V.-G. die enge Verknüpfung von sakramentalem Kirchenzweck und priesterlicher Weihegewalt heraus, wobei der Aquinate nicht versäumt, die höchste sakramentale ordo einer noch höheren kirchlichen Gewalt unterzuordnen und somit einzugrenzen. Diese als potestas iurisdictionis bezeichnete, den Bischöfen zukommende Gewalt erfährt ihre höchste Ausformung in der plenitudo potestatis des Papstes und avanciert als »weiheunabhängige Jurisdiktionsgewalt« zum »gestaltenden Prinzip der gesamtkirchlichen Ordnung« (39). Eine problemorientierte Weiterentwicklung der mendikantischen und de-kretalistischen Gewaltenlehre kommt nach V.-G. dem Theorem der »Repräsentation« zu, das zur Zeit des Papstschismas nach 1378 im sogenannten Konziliarismus eine wichtige Rolle spielt. In diesem Zusammenhang wird die Amtstheorie des Pariser Universitätskanzlers Johannes Gerson anhand seiner Schrift De potestate ecclesiastica (1417) vertiefend gewürdigt. Insbesondere dessen »Institutionalisierung der Kirchengewalt« (53–57), die in der Ausdifferenzierung der kirchlichen Repräsentationstheorie in die supremitas des Papstes einerseits und die latitudo des Konzils andererseits gipfelt und somit einer institutionellen Machtverteilung Vorschub leistet, begründet dessen Amtsverständnis, das »einen zu­tiefst egalitären Zug« (61) aufweist.
Für seine Theorie von den Repräsentationsorganen lehnt sich – so V.-G. überzeugend – Gerson an das Ideal der französischen politischen Ständeverfassung seiner Zeit an. Schließlich wird anhand des wirkmächtigen und auch von Luther rezipierten Messkanonkommentars Gabriel Biels, der aus Vorlesungen zwischen 1484 und 1488 hervorgegangen war, dessen Amtsverständnis im Umfeld spätmittelalterlicher Reformtheologie betrachtet. Weil Biel die sa­kramentale Handlungsgewalt des Priesters in der Eucharistie (potestas consecrationis) und der Buße (potestas clavium) als weitere officia der Kirche auf die sie legitimierende päpstliche Regierungsgewalt bezog und somit die Abhängigkeit des Priesteramtes von der päpstlichen Universalgewalt betonte, erhielt die juristisch-administrative Kirchenleitung einen neuen Charakter: Sie avancierte von »einer heilsfördernden zu einer heilsbringenden In­stanz« (82).
Dank der genetisch-problemorientierten und die vorgestellten Konzepte stets diskutierenden Darstellungsform lassen sich die Veränderungen und Kontroversen innerhalb des mittelalterlichen Amtsverständnisses, genauer von ordo und auctoritas, gut nachvollziehen. Gleichwohl hätte eine resümierende Zusammenfassung am Ende des ersten Kapitels der Ergebnissicherung gedient und den Gebrauchswert der Studie noch gesteigert.
Im zweiten, umfangreicheren Kapitel (85–181) wird sodann Martin Luthers Amtskonzeption von 1513 bis 1523 als »Umbruch und Neuorientierung« interpretiert. Um einerseits die Veränderungen gegenüber der »päpstlichen Sakramentskirche« (so V.-G.s Umschreibung der mittelalterlichen Papstkirche [185]) und in­nerhalb Luthers Amtslehre andererseits deutlich zu machen, konzentriert sich V.-G. auf ausgewählte Luthertexte wie beispiels-weise die frühen Vorlesungen, die Ablassthesen oder die Resolu-tiones.
In einem ersten Teil entfaltet er »die Auseinandersetzung Lu­thers mit dem ›kirchlichen Amt‹ bis 1520«. Bekannt ist, dass Luther dem kirchlichen Amt in seinen Wittenberger Anfangsjahren kein eigenständiges Interesse entgegenbringt. Gleichwohl gelingt es V.-G., anhand einzelner Beispiele und in einzelnen Schritten zu zeigen, wie Luther Probleme der Kirchen- und Amtsvorstellung umdeutet, indem er sie in Verbindung zum »Gläubigen« setzt. Während die Papstkirche betont, dass dem Einzelnen durch die Institution und Autorität der Kirche das Heil lehrhaft und sakramental vergegenwärtigt wird, ohne dass er sich dieses aneignen müsse, haben bei Luther äußere Ordnung und Autorität der Kirche dienende Funktion: Sie sind ganz darauf abgestellt, »den inneren Prozess des vom Glauben in den Glauben fortschreitenden Gewissens zu befördern, also auf die Aneignung des Heils und seines religiösen Urgrunds zu dringen« (103). Von dem durch die Ab­lassthesen ausgelösten Streit über die päpstliche Schlüsselgewalt – von der potestas clavium spricht Luther in den Ablassresolutionen völlig undifferenziert und gebraucht ihn geradezu als Sammelbegriff für alle Tätigkeiten der kirchlichen Amtsträger (107) – zeichnet V.-G. die weiteren Entwicklungsschritte bis zur Leipziger Disputation nach. Aus Luthers fundamentaler Konzentration auf den Glauben erwächst konsequenterweise ein »›spiritualisierender‹ Kirchenbegriff« (123), der über die Ausführungen in der Schrift gegen Augus-tin (nicht Johann) von Alveldt (131) weiterentwickelt wird und im Gedanken »des den Gläubigen im Glauben beigelegten geistlichen Priestertums« 1520 gipfelt (136).
Im zweiten Teil widmet sich V.-G. sodann Luthers Vorstellung vom »Priestertum aller Gläubigen« zwischen 1520 und 1523. Von der geradezu klassisch gewordenen Ausführung in der Adelsschrift (1520) bis zu De abroganda missa privativa entwirft Luther seine Amts- und Gemeindevorstellung, die V.-G. als ein spannungsreiches Nebeneinander von »charismatisch schillernder Freiwilligkeitskirche und geistgestifteter Bürgerkirche« (156) beschreibt. Mit der Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg erwarten Luther nun konkrete Aufgaben, die u. a. in der praktischen Umsetzung der Gemeindeordnung bestehen. Wie sich Luthers Amtsverständnis in seinen Vorschlägen für das kursächsische Leisnig und das böhmische Prag (1523) konzeptionell auf den minister verbi mit »Zügen eines kirchlich-öffentlichen Hausvaters« (181) verdichtet und so­mit eben nicht das Motiv des »Priestertums aller Gläubigen« in den Gemeindeordnungen zum Tragen kommt, führt V.-G. gut nachvollziehbar aus. Ende 1523 hat sich Luther von der Leitvorstellung einer »charismatisierenden Freiwilligkeitskirche« (180) ver-abschiedet und dem ministerium publicum zugewandt. Wie sich diese institutionelle Grundierung in der Auseinandersetzung mit Müntzer und Karlstadt sowie in Folge des Bauernkrieges bei Luther festigt, deutet V.-G. immerhin an (181). Gewünscht hätte man sich, in gleicher Weise über Melanchthons frühes Amts- und Gemeindeverständnis aufgeklärt zu werden.
Ein resümierendes Kapitel führt die mittelalterlichen und lu­therischen Perspektiven von potestates und ministerium publicum abschließend brennglasartig zusammen. V.-G. stellt hierin eine »historische Ambivalenz« bei Luther fest: Dieser trete »mit dem ministerium publicum in einen ebenso prinzipiellen religiös-theologischen Gegensatz zum Amtsverständnis des mittelalterlichen Kirchentypes, wie er institutionell den gradualistischen Grundzug dieses Kirchentypus transformiert und weiterführt.« (183)
Mit der vorliegenden Studie, die einen etwas rezeptionsfreudigeren Titel und die Untergliederung in weitere Teilkapitel verdient hätte, gelingt V.-G. ein brillanter theologiegeschichtlicher Wurf. Wer sich auf die Lektüre des Werkes einlässt, wird nicht zuletzt intellektuell bereichert.