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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

899–901

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Verheyden, Joseph, and John S. Kloppenborg [Eds.]

Titel/Untertitel:

Luke on Jesus, Paul and Christianity: What Did He Really Know?

Verlag:

Leuven u. a.: Peeters 2017. XII, 313 S. = Biblical Tools and Studies, 29. Kart. EUR 86,00. ISBN 978-90-429-3437-5.

Rezensent:

Heike Omerzu

Der vorliegende Band versammelt elf Beiträge des »Fourth International Symposium of the Leuven Centre for the Study of the Gospels«, welches sich mit der Frage beschäftigt hat, was Lukas über die soziale Welt, die er im Doppelwerk beschreibt, wusste.
Die ersten drei Aufsätze untersuchen »Luke’s Literary Relation-ships«. Hier eröffnet Manfred Lang die Reihe, indem er die notorische Frage nach den »Quellen der Apostelgeschichte« aus literaturwissenschaftlicher Perspektive dahingehend eingrenzt, dass unter Quelle ein Text zu verstehen sei, der »erkennbare Kenntnis aus der Vergangenheit thematisiert« (12). Für die Apostelgeschichte gelte dies lediglich für markierte alttestamentliche Zitate und die Briefe in Apg 15 und 23. Der Erkenntnisgewinn dieses Zugangs, insbesondere gegenüber differenzierteren intertextuellen Studien, bleibt undeutlich. Jens Herzer widmet sich im Anschluss umsichtig der Frage nach der Kenntnis des Lukas in »›Lukas ist allein bei mir‹ (2Tim 4,11). Lukas, die Pastoralbriefe und die Konstruktion von Geschichte«. Seine Arbeitshypothese lautet, dass der Verfasser des Doppelwerks ein zeitweiliger Paulusbegleiter war und dass der Zweite Timotheusbrief und der Titusbrief (jedoch nicht der Erste Timotheusbrief) als authentische Paulusbriefe zu gelten haben, was Herzer anderweitig ausführlich begründet hat. Lukas möge zwar andere Paulusbriefe gekannt haben, er habe »diese aber in seiner von einem späteren Standpunkt aus rückblickenden Ge­schichtskonstruktion offenbar bewusst nicht aufgenommen« (34). Die Apostelgeschichte und die beiden Pastoralbriefe wiesen eine ähnliche Grundrichtung auf, die auf eine Vernetzung der ihnen zugrundeliegenden Überlieferungen deute. Dieter Roth bietet schließlich in »The Link between Luke and Marcion’s Gospel. Prolegomena and Initial Considerations« einen Durchgang durch die neuere Marcionforschung samt deren Beurteilung des Verhältnisses von Marcion und Lukas, wobei insbesondere die Positionen von M. Vinzent, J. BeDuhn und M. Klinghardt kritisch hinterfragt werden. Pointiert zeigt Roth anhand verschiedener Beispiele, dass eine solche Verhältnisbestimmung nur auf der Grundlage einer methodisch abgesicherten Rekonstruktion von Marcions Evangelium möglich ist. Insofern handelt es sich eher um eine (instruktive) Vorstudie zur Beantwortung der Frage »What did Luke really know?«.
Der Abschnitt »Luke, Geography, and Space« enthält zwei Beiträge. Daniel A. Smiths Aufsatz »›Not Done in a Corner‹ (Acts 26,26). Space, Territory, and ›Public Speaking‹ in Luke-Acts« ist weniger an Lukas’ geographischem Wissen interessiert als vielmehr an den Strategien, mit denen Lukas »constructed the space of the oikoumenē as the territory of the way« (84). Er untersucht mit Hilfe von u. a. der Critical Space Theory den Erfolg und Misserfolg der öffentlichen Reden von Jesus und Paulus und kommt zu dem Schluss, dass Lukas durch sie die oikoumene als einen »real-and-imagined« (99) Thirdspace konstruiere, der konkrete Auswirkungen auf das Leben der lukanischen Leser habe. John Kloppenborg legt in »Luke’s Geography. Knowledge, Ignorance, Sources, and Spatial Concep-tion« in luzider Weise die These vor, dass Lukas unterschiedliches räumliches Wissen vorliegt: Während er für das Innere Palästinas hauptsächlich »place-name knowledge« zu besitzen scheine, das er seinen Quellen verdankt, ließe er über die Levanteküste relationales Wissen erkennen, das auf antike Itinerarien oder Landkarten zurückgehen könnte. Für die nordöstliche Ägäis besäße er hingeg en Ortskenntnis aus erster Hand. Lukas konstruiere Raum im Doppelwerk so, dass (Fort-)Bewegung normal und unproblematisch erscheine, und er betone dabei die Verbundenheit sowohl der Hauptpersonen untereinander als auch mit urbanen Zentren (»re­presentational space«). Damit reflektiere er die höhergestellte soziale Position der städtischen Elite.
Die Aufsätze von Mark G. Bilby, »Pliny’s Correspondence and the Acts of the Apostles. An Intertextual Relationship?«, und Thomas E. Phillips, »How Did Paul Become a Roman ›Citizen‹«: Reading Acts in Light of Pliny the Younger«, im Abschnitt »Acts and the Roman World« datieren beide – gemäß einem zunehmenden Trend der neueren Actaforschung – die Apostelgeschichte in das 2. Jh. n. Chr. und gehen davon aus, dass Lukas den Pliniusbrief (ca. 109–111) gekannt und für seine Paulusdarstellung benutzt hat. Sowohl inhaltlich als auch methodisch (z. B. Rückgriff auf Hays’ und MacDonalds Intertextualitätskriterien) liegen beide Beiträge so nah beieinander, dass sie für die Publikation mit Gewinn hätten zusammengefasst werden können. Dies hätte zugleich Raum geschaffen für sowohl eine differenziertere Analyse des römischen Rechtswesens in der frühen Kaiserzeit als auch die konstruktive Diskussion abweichender Positionen. Lesenswerter ist gewiss Phillips’ Aufsatz.
Im Abschnitt »Luke and the Roman Economy« stellt zunächst Giovanni Bazzana in »From Thesauroi to Purses: Wealth and Poverty between Q and Luke« heraus, dass sowohl die hypothetische Spruchquelle Q als auch das Lukasevangelium einem sub-elitären Milieu zuzuschreiben seien. Im Gegensatz zu Q sei Lukas aber nicht im ländlichen, sondern im urbanen Umfeld zu verorten und repräsentiere eine klar definierte Reichtumsethik. Dies ist keine neue Einsicht, sie wird hier aber durch papyrologische Belege gestützt. Der zweite (und im gesamten Band einzige von einer Frau abgefasste) Beitrag in dieser Rubrik stammt von Michelle Christian, die auf instruktive Weise den rhetorischen Umgang mit Zahlen in der Antike im Allgemeinen und in der Apostelgeschichte im Besonderen beleuchtet. Die runden und stilisierten Zahlen, die Lukas etwa im Blick auf das Wachstum der Urgemeinde präsentiere, seien zwar weder objektiv noch akkurat, spiegelten aber die Realität der christlichen Wahrnehmung und seien Ausdruck einer lukanischen »Politik der Zahlen«.
Der letzte Abschnitt trägt den Titel »Luke on Jesus and the Church«. Er wird eröffnet mit Arjan Zuiderhoeks Aufsatz »What Should Jesus Do? How Not to Go Around and Do Good in the Greco-Roman World«. Zuiderhoek untersucht das Paradox, dass Lukas Jesus und die Apostel zwar mit Attributen des Euergetismus belegt, diese aber in ihrem konkreten Auftreten, etwa hinsichtlich der Hinwendung zu sozial Marginalisierten, vom griechisch-römischen Ideal abwichen. Lukas vertrete damit die subversive Absicht, die christliche Gemeinschaft als eigentliche Oikumene zu etablieren. Dieses unkonventionelle Konzept von Freigiebigkeit ließe sich auch anderweitig in der frühen Kaiserzeit beobachten. Den Band beschließt Markus Öhlers Beitrag »Die erste Gemeinde und ihr Ort. Beobachtungen zum lukanischen Doppelwerk«, der auch gut in den zweiten Block zu Geographie und Raumvorstellung gepasst hätte. Öhler nimmt die Ortsangaben in Lk 19–Apg 8 aus unterschiedlichen Perspektiven – narrativ, topographisch, theologisch und historisch – in den Blick. Die lukanischen Angaben seien voller »Uneindeutigkeiten, die unterschiedliche Lesemöglichkeiten an­bieten«. Zwar seien keine Rückschlüsse auf historische Kenntnis oder Traditionen des Lukas möglich, deutlich seien doch die Anbindung der Urgemeinde an das Jerusalemer Heiligtum sowie der spätere Übergang zu Privathäusern als Versammlungsstätten.
Die elf Beiträge sind, wie bei den meisten Sammelbänden der Fall, von unterschiedlicher Qualität (auch in ihrer redaktionellen Bearbeitung), insgesamt handelt es sich jedoch um einen lesenswerten Band, der zwar nicht immer – wie im Titel avisiert – darauf fokussiert ist, was Lukas »wirklich wusste«, aber doch einen guten Einblick in die neuere Lukas- und vor allem Actaforschung bietet.