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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

897–899

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ravasz, Hajnalka

Titel/Untertitel:

Aspekte der Seelsorge in den paulinischen Gemeinden. Eine exegetische Untersuchung anhand des 1. Thessalonicherbriefes.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIII, 287 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 443. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-154814-7.

Rezensent:

Ulrich Mell

Die Studie von Hajnalka Ravasz stellt die zur Veröffentlichung überarbeitete Dissertation gleichen Titels dar, die von Petr Pokorný und Jiři Mrázek, aber hauptsächlich von Ulrich Luz (Bern) betreut wurde und an der Evangelischen Theologischen Fakultät der Karls-Universität in Prag bereits 2008 zur Promotion der Vfn. führte. Nach ihren Worten ist es das Ziel der Studie, »die inner- und außertheologische Interdisziplinarität mit der Schilderung der seelsorgerlichen Tätigkeiten des Apostels Paulus im Neuen Testament im Vergleich mit antiken, frühjüdischen und modernen sozialpsychologischen Theorien zu fördern, das Verhalten der ersten Christinnen und Christen mithilfe dieser Theorien zu verstehen und dadurch neue Impulse für intra- und interdisziplinären Dialog zu setzen« (1 f.). Gedacht ist vor allem an das Gespräch mit der Praktischen Theologie.
Ließ der Haupttitel eine historische Untersuchung erwarten, wie innerhalb der von Paulus gegründeten Gemeinden Prozesse der Seelsorge als »Sorge um den ganzen Menschen mit seinen seelisch-psychischen und körperlichen Bedürfnissen« (13) praktiziert wurden, so wird diese Annahme von den Ausführungen zur »Methode und Gliederung der Arbeit« (14–19) korrigiert: Hier wird festgestellt, dass »heute keine empirische Untersuchung in den urchristlichen Gemeinden durchgeführt werden kann« (15), jedoch die paulinischen Briefe »die historisch zuverlässigste Dokumentation von geschehener Seelsorge im Urchristentum« seien (16). Präziser formuliert: Die Studie widmet sich der von Paulus per Brief ausgeübten Seelsorge einschließlich derjenigen seines persönlichen Selbstverständnisses als Seelsorger, nicht jedoch der von den Gliedern der Gemeinde in Thessaloniki – oder anderswo – praktizierten Seelsorge. Die Eingrenzung auf den 1Thess – angereichert durch einzelne Exkurse aus seinen weiteren Schriften (z. B. 2Kor 1,3–7; 157–160) – begründet die Vfn. damit, dass Paulus diesen Brief »mit seelsorgerischem Ziel verfasst« habe (26).
Entsprechend dem Verständnis der Vfn. von Exegese als einem »›fremden Gast‹« (16), der textanalytische wie gattungsmäßige Erkenntnisse zum Textverständnis bereitstellt, werden vier »Mo­delltexte« aus dem 1Thess besprochen, um sie mit Konzepten der antiken Seelenführung – die Vfn. bezieht sich auf Plutarch, Philodem, Epiktet, Seneca und Quintilian (vgl. 27–34) – sowie Erkenntnissen der modernen Pädagogik und Sozialpsychologie in Beziehung zu setzen.
1Thess 1,2–10 wird unter dem Thema »Die Funktion der Nachahmung und des Vorbildes in der Seelsorge« (35–85) im Kontext antiker Nachahmungstheorien sowie der »Theorie des Nachahmungslernens« von A. Bandura besprochen. Das Ergebnis lautet, dass Paulus sich der Gemeinde »nicht als moralisches Beispiel« empfehle (85) und dass die moderne Theorie helfe, »die eigene Angst vor Vorbildern bewusst wahrzunehmen« (228).
1Thess 2,1–12 wird unter zwei Gesichtspunkten betrachtet (86–131): Unter der Überschrift »Paulus als Seelsorger« wird erläutert, dass Paulus sich in seinem Apostelamt von zeitgenössischen Philosophen »durch Verurteilung ihrer Schmeichelei, Hab- und Ehrsucht« abgegrenzt (115), sich dagegen um seine Gemeinde »wie eine Amme um ihre eigenen Kinder« gekümmert habe (vgl. 1Thess 2,7) und sie »mit voller Hingabe, freundlich und ohne Ehrgeiz und Habgier« betreute (107). Durch seine Selbstvorstellung als »Vater« (2,11) habe er zudem »seine erzieherische Verantwortung und seine Leitung der Gemeinde wie eine eigene Familie« wahrgenommen (107). In zweiter Hinsicht zeige der Text Paulus’ »Seelsorgerisches Selbstbewusstsein«. Der präsentierte »Rollenkatalog« (113) könne »mithilfe der sozialpsychologischen Rollentheorien analysiert« werden (229): Während die Rolle als Apostel eine Paulus »von Gott zugewiesene« darstelle, drücke er mit den Elternrollen als sogenannte »wahrgenommene Rollen« identifizierend »die Tiefe seiner Gefühle zu den Thessalonichern aus« (229). Zugleich ermögliche Paulus einen »Prozess der Hilfeleistung« (229) bei der durch die Konversion zum Auferstehungsglauben entstandenen Not der Gemeinde, die in der Trennung von ihren Familien und der Anfeindung durch ihre Umwelt besteht: Entsprechend dem kompensatorischen Modell von P. Brickman werden »für die Entstehung der Notlage außerpersönliche Kräfte verantwortlich gemacht«, um zugleich der Gemeinde »große Selbstverantwortung in der Problemlösung« zuzuweisen (230).
»Formen der Trauer und des Trostes in der Seelsorge« entdeckt die Vfn. in 1Thess 2,17–3,13 (132–176), insofern sich die thessalonische Gemeinde nach der Flucht des Paulus (vgl. Apg 17,10) in einer akuten »Krisensituation« befinde (174, Hervorh. ebd.). Da der »antike Gedanke des Selbsttrostes« bei Paulus völlig fehle (230), können für die von ihm empfohlene Trostspendung als »Lesehilfe« (175) die »religiösen Bewältigungsmechanismen« dienen, die K. I. Pargament festgestellt hat: Danach kann »der Trauerbewältigungsprozess der thessalonischen Gemeinde der ›mitarbeitenden‹ Bewältigung zugeordnet werden« (230). Dabei werden »von den drei Ressourcen der Krisenbewältigung« (130, Hervorh. ebd.), die Chr. Morgenthaler identifiziert hat, besonders »die familiären und sozialen« mobilisiert, und zwar deshalb, »weil gerade der Gemeinschaftscharakter im christlichen Trost ein sehr wichtiges Element darstellt« (175).
Schließlich wird 1Thess 5,11–15 unter dem Titel: »Die ›seelsorgende‹ Gemeinde« besprochen (177–225). In Bezug der Untersuchung der Gruppenkohäsion und der Feststellung der Gruppenstrukturen könne die Gemeinde von Thessaloniki dem »zweiten Typus der Gesellschaftstypologie« von M. Douglas zugeordnet werden: Sie war »eine egalitäre, organisatorisch instabile Gemeinschaft […], die zur charismatischen Führung tendierte. Dieser Gemeinschaftstyp verlangt die Ausübung einer gegenseitigen Seelsorge der Gemeindeglieder innerhalb der Gesamtgemeinde« (224).
Die Besprechung des 1. Thessalonicherbriefes in Bezug auf das Thema der Seelsorge schließt mit einer zusammenfassenden Präsentation der Ergebnisse (226–232), enthält ein nach Themen gegliedertes Literaturverzeichnis (233–257) und endet mit einem ausführlichen Register (259–287).
Die Untersuchung stellt insofern einen Hybrid dar, als Texte des 1Thess einerseits mit einer methodisch begrenzt arbeitenden Exegese betrachtet und andererseits durch die Brille moderner Sozialtheorie gelesen werden. Manko ist dabei nicht, dass der erst seit der Reformation (cura pastoralis) entstandene und in der modernen Praktischen Theologie verwandte Begriff der »Seelsorge« im 1Thess wie in der sonstigen paulinischen Literatur nicht vorhanden ist, und auch nicht, dass Erkenntnisse der Sozialtheorie bereits bekannte Trivialitäten wiederholen könnten (vgl. 16), sondern das eingeschränkte hermeneutische Verständnis der Vfn. Da Texte zu ihrem Verständnis auf die Kompetenz ihrer Rezipienten angelegt sind, ist es vollkommen legitim, sie mit antiken und erst recht mit modernen Verstehensmodellen zu interpretieren. Entscheidend muss allein sein, ob ein besseres, d. i. adäquateres Textverstehen gelingen kann.
Dieses Kriterium aber erfüllt die vorliegende Untersuchung nur in Teilen. Mit Verwunderung muss nämlich festgestellt werden, dass eine Besprechung von 1Thess 4,13–18 fehlt, derjenige Text, der nach Auskunft von Paulus selbst seine ›Ermutigung‹, mithin seine Seelsorge, an die thessalonische Gemeinde enthält (vgl. 4,18): Seine Ausführungen stellen nämlich seinen gewagten Versuch dar, die über ihre gläubig verstorbenen Mitglieder trauernde Endzeitgemeinde mittels der christologischen Grundlage des Auferstehungsglaubens (vgl. 4,14a) zu trösten. Dürfte doch das Problem, dass der unzeitgemäße Tod die Gemeinschaft der auf das Parusie-Heil auf Erden zugehenden Erwählungsgemeinde permanent zerstört, den entscheidenden Grund darstellen, dass Paulus sich seiner Gemeinde via Brief »seelsorgerlich« zugewendet hat. Hier wäre es hilfreich gewesen, wenn die Vfn. ihre nicht unzutreffenden Hinweise zu der 1Thess 2,17–3,13 angesprochenen Krisenbewältigung der Trennung des Apostelteams von der Gemeinde in erweiternder Form fortgesetzt hätte. Ja, es wäre die zentrale Aufgabe dieser Studie gewesen, die sprachliche Dimension des seelsorgerlichen Tros-tes herauszuarbeiten, der für die christliche Seelsorge zur Bewältigung des Todesschicksals bis heute von diesem – wie auch von dem späteren Text 1Kor 15 – paulinischen Text ausgeht. Allerdings würde die Zuwendung zum seelsorgerlichen Hauptproblem des 1Thess erfordern, dass die Vfn. ihre exegetische Kompetenz um ein gutes Instrumentarium erweitern müsste, insofern sie literarkritische wie traditionsgeschichtliche Erwägungen über den frühchristlichen (vgl. 4,14a.15) wie frühjüdisch-apokalyptischen Horizont (vgl. 4,16; 5,2 f.) anstellen und sich der rhetorischen Analyse paulini-scher Kommunikation stellen müsste (vgl. 22).
Kann der Rezensent Auswahl wie Anwendung der von der Vfn. herangezogenen pädagogischen wie sozialpsychologischen Modelle nicht beurteilen, so bleibt an der exegetisch auf der von A. Malherbe angeregten Bahn des Verständnisses des 1Thess als »›seelsorgender‹-tröstender Gemeindebrief« (26, Hervorh. ebd.) wandelnden Studie lobend festzuhalten, dass Beobachtungen zu dem von Paulus propagierten familiären Rollenverständnis wie zur gesellschaftlichen Analyse der thessalonischen Gemeinde unentbehrlich für das Verständnis urchristlicher Glaubenswirklichkeit bleiben. Dasselbe trifft für die Erkenntnis zu, dass Paulus eine gemeindeorientierte Seelsorge entwirft, für die sich in den Philosophen-gemeinschaften und -schulen der Antike keine Analogie findet (vgl. 14).