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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

895–896

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Landmesser, Christof, u. Ruben Zimmermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Text und Geschichte. Geschichts- und literaturwissenschaftliche Beiträge zum Geflecht von Faktizität und Fiktionalität.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 376 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 46. Kart. EUR 88,00. ISBN 978-3-374-04791-8.

Rezensent:

Felix John

Der Band versammelt 15 Beiträge, die auf von Historikern, Philologen und Theologen im Rahmen mehrerer Tagungen gehaltene Vorträge zurückgehen. In seinem einleitenden Text nennt Ruben Zimmermann zunächst geschichts- und literaturwissenschaftliche Grundeinsichten, mit denen sich auch die folgenden Beiträge des Sammelbandes in je eigener Weise beschäftigen. Geschichtsschreibung bilde keine Fakten ab, sondern konstruiere durch Erzählung. Von einer strikten Trennung in Literatur und Historiographie, in ein fiktionales und ein faktuales Genus könne daher keine Rede sein. Die neutestamentliche Exegese beschäftige sich seit der Rezeption dieser im Zuge des linguistic turn gemachten Beobachtungen weniger mit der historischen Rückfrage hinter die Texte, sondern verstehe sie zunächst als literarische Größen. Wundergeschichten etwa berichteten antik gattungsgemäß in historiographischer Gestalt von auch Übernatürlichem. Fakt und Fiktion gingen ineinander über. Trotz der unscharfen Grenzen seien Dichtung und Geschichtsschreibung aber doch zu unterscheiden. Auch seien die neutestamentlichen Texte nicht legendarisch, sondern auf Geschehenes bezogen.
Den zuletzt genannten Aspekt betonen einige der exegetischen Beiträge des Buches. Für Christof Landmesser sind geschichtliche Aussagen zwar ausnahmslos an Sprache und Perspektive des Sprechers gebunden – im Raum der Theologie: an die des Christusglaubens –, doch beziehen sie sich auf außerhalb der Sprache Liegendes. Das Paradigma des ›historischen‹ gegenüber dem des ›erinnerten‹ Jesus verteidigt Gerd Häfner. Der Konstrukt-Charakter von Ge­schichte sei auch beim third quest der Jesusforschung vorausgesetzt worden. Nur den Faktualitätsanspruch von Texten festzustellen, reiche nicht aus. Dem stimmt Robert Vorholt mit Blick auf die Auferstehungstexte zu. Sie wollten (wenn nicht den Akt der Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott, so doch) die Begegnungen von Jüngern und Auferwecktem als Geschehen, nicht als unhistorischen Mythos berichten. Detlev Dormeyer geht die Paulusbriefe, die Logienquelle und das Markusevangelium durch und notiert nicht nur den jeweils unterschiedlichen Stellenwert, sondern auch die breite Bezeugung der daher als authentisch eingestuften Basileia-Verkündigung Jesu.
Beim historiographischen Charakter neutestamentlicher Texte setzen die Beiträge von Eve-Marie Becker und Oda Wischmeyer an. Becker plädiert für die (im post-historistischen Zeitalter nun mögliche) Wahrnehmung des Markusevangeliums als narrative Geschichtskonstruktion. Wischmeyer führt am Vergleich von Gal 1,16 und den Auserzählungen des Damaskusereignisses in der Apostelgeschichte vor, wie Lukas ein historisches Ereignis konstruiere, das so zu einem Element der Geschichte des Frühen Christentums geworden sei.
Kritisch gegenüber einer historiographischen Charakterisierung des Markusevangeliums bzw. der Apostelgeschichte sind die nächsten beiden Beiträge eingestellt. Für Paul-Gerhard Klumbies tritt der Markusevangelist zwar mit einem Faktualitätsanspruch auf, dessen Voraussetzungen sich jedoch nicht extern überprüfen ließen. Ansatzpunkt der Markus-Exegese sei daher unbedingt die Erzählung als Stimme ihrer Entstehungszeit, nicht das Erzählte. Die ätiologische Erzählung biete den »Anfang« (Mk 1,1) des ge­glaubten und verkündigten Evangeliums und sei von mythischen Elementen durchzogen, die erst mit dem als real dargestellten, nicht ins Mythische verlegten Tod Jesu zurückträten. Martin Bauspieß setzt forschungsgeschichtlich mit den im deutschsprachigen Raum von Baur über Overbeck bis hin zur formgeschichtlichen Schule begegnenden Vorbehalten gegenüber dem (literarisch-) historiographischen Charakter der Apostelgeschichte ein. Erst im Zuge der neueren theologischen Würdigung der Geschichte (Käsemann/Pannenberg) habe schließlich die Apostelgeschichte eine po­sitivere Bewertung als historiographische Standards bemühendes Werk erfahren. Bauspieß warnt aber davor, das lukanische Werk einseitig als Geschichtswerk zu verstehen und so den auch theologischen Wirklichkeitszugriff zu marginalisieren.
Der Fruchtbarkeit interdisziplinärer Ansätze bei der Behandlung des Problemhorizonts trägt der Sammelband durch die Aufnahme einiger nicht-theologischer Beiträge Rechnung. So be­schreiben die Literaturwissenschaftler Stephan Jaeger, Karin Peters und Jasmin Marjam Rezai-Dubiel Geschichtsschreibung als literarisches Konstrukt und Literatur als Raum historischer Arbeit.
Interessant angesichts der Diskussion über das Problem der Augenzeugenschaft im Neuen Testament erscheinen die Beobachtungen Heinz-Günther Nesselraths von altphilologischer Seite zur Rolle des Augenscheins als Plausibilitätskriterium bei Herodot. Letzterem gelte mit eigenen Augen Gesehenes als am besten gesichert, noch vor dem von Befragten Berichteten oder gar dem in Mythen und Legenden Überlieferten. Zwar kenne er die Gefahr irrtümlicher Deutung von Gesehenem oder der betrügerischen Inszenierung falscher Tatsachen, doch seien Herodots Opsis-Verweise, anders als von modernen Kritikern behauptet, nicht als bloßes literarisches Gestaltungsmittel einzustufen, sondern als ernst ge­meintes Plausibilitätskriterium.
Zu den vom Historiker Stefan Jordan vorgestellten bleibenden Ergebnissen der in den 1980er Jahren in der Geschichtswissenschaft sich vollziehenden Wende von der klassischen Welt- sowie der modernen Sozialgeschichte hin zur Neuen Kulturgeschichte zählt neben Erinnerungs- und Gedächtnistheorien und der Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts um kulturelle, religiöse, körperliche Gegebenheiten auch die Etablierung der Diskursgeschichte. Das auch in der Exegese geläufige Stichwort nimmt < /span>Klaus Neumann in seinem Beitrag auf. Er begrüßt es, beispielsweise bei Mk 10,1–12 von einem Ehescheidungsdiskurs zu sprechen anstatt nach dem authentischen Jesuslogion zu Ehe und Scheidung zu suchen. Inner­halb eines Diskurses träten Kategorien wie »Richtig« und »Falsch« hinter die Reflexion und Aushandlung von Denk- und Handlungsmöglichkeiten zurück. Eine diskurstheoretisch fundierte Historiographie begreife ihre Quellen als Relikte einer »Sinnproduktionspraxis«. Diskurse institutionalisierten sich, insofern sie auf einen thematischen Gegenstand und eine Diskursgemeinschaft bezogen seien. Auf mögliche Anachronismen sei aber zu achten: »Ist es angemessen, von einem ›antiken Diskurs über die Sexualität‹ zu sprechen, wenn ›Sexualität‹ ein modernes Konstrukt ist […]?« (129)
Der Sammelband bietet eine reiche Fundgrube für eine – um ihres Wissenschaftscharakters willen notwendige – geschichts- und literaturwissenschaftliche Fundierung der neutestamentlichen Exegese. Er gewährt Orientierung über die methodologische Großwetterlage und stellt aufgrund ihrer jeweiligen Anwendung des theoretischen Instrumentariums unterschiedlich ausfallende historische und literarische Lektüren neutestamentlicher Texte vor. Das Thema erschöpfen sie freilich nicht, vielmehr regen sie zur Weiterarbeit an. Gerade die Beschäftigung mit weiterer außerneutestamentlicher antiker Literatur verspricht das Problembewusst sein für das Faktizitäts-Fiktionalitäts-Geflecht der im Neuen Testa- ment versammelten bio-/historiographischen Texte zu schärfen.