Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2018

Spalte:

888–889

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hirsch-Luipold, Rainer

Titel/Untertitel:

Gott wahrnehmen. Die Sinne im Jo­hannesevangelium. Ratio Religionis Studien IV.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XV, 427 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 374. Lw. EUR 134,00. ISBN 978-3-16-154899-4.

Rezensent:

Predrag Dragutinovi

Wie im 20. Jh., so bleibt auch am Anfang des 21. Jh.s das Johannesevangelium im Brennpunkt der neutestamentlichen Exegese. So­wohl in methodischer als auch in inhaltlicher Hinsicht werden die wichtigsten Themen dieses Textes erneut diskutiert und unter neuen Fragestellungen betrachtet. An diesem fortdauernden Prozess der Johannesforschung partizipiert das hier zu besprechende Buch. Schon der Titel weist auf ein spannendes und nicht allzu oft bearbeitetes Untersuchungsfeld hin, nämlich auf die erkenntnis theoretische Rolle der Sinne im Johannesevangelium. Obwohl Epis-temologie von jeher zu den wichtigsten Feldern der Theologie und Exegese gehört, werden die biblisch fundierten erkenntnistheoretischen Fragen in der modernen neutestamentlichen Wissenschaft m. E. immer noch nicht genügend erörtert. Umso erfreulicher ist es, dass wir nun einen Beitrag zur Epistemologie des Johannesevangeliums vor uns haben. In diesem Sinne stellt das vorliegende Buch eine gelungene Synthese zwischen theologisch-erkenntnistheoretischen Fragestellungen und der Exegese dar. Eine sorgfäl-tige, methodisch durchdachte und kontrollierte exegetische An­nährung an die Thematik der (sinnlichen) Wahrnehmung Gottes im Johannesevangelium zeichnet dieses Buch aus.
Rainer Hirsch-Luipold geht von zwei Beobachtungen aus. Die erste ist die evidente Spannung zwischen zwei Aussagen gerade im ersten Kapitel des Evangeliums, der Rede vom »Fleisch gewordenen Logos« (1,14) und der Feststellung, »keiner hat Gott jemals gesehen« (1,18). Die Frage ist: Hat die Geschichtlichkeit und Sinnlichkeit (»Fleisch«) etwas mit der Sehbarkeit und Nichtsehbarkeit Gottes zu tun? (25–32) Wie verhalten sich hier Geschichte und Theologie zueinander? Die zweite Beobachtung ist verbunden mit der Rezeptionsgeschichte des Evangeliums. Seit Klemens von Alexandria ist man gewohnt, das Johannesevangelium als »geistliches Evange-lium« zu bezeichnen, und zwar im Unterschied zu den übrigen Evangelien, die alle »äußerlich-körperliche Aspekte« dargelegt haben (41–42). In diesem Rahmen mag die Betonung und Häufigkeit gerade sinnlicher Wahrnehmungen im Text des Evangeliums überraschend wirken. Ausgehend von diesen zwei Beobachtungen unternimmt der Vf. eine exegetische Tour durch die Texte. Methodisch bedient er sich dabei der Einsichten von W. Freedman (Mo-tivinterpretation), besonders unter den Aspekten der Häufigkeit (frequency), Unwahrscheinlichkeit (avoidability, unlikelihood) und Stimmigkeit (appropriateness) (13–24). Grundsatz der Methode der Motivinterpretation ist, »dass ein Motivkomplex innerhalb einer Schrift in unterschiedlichen Zusammenhängen mit einer übergreifenden Aussageintention aufgenommen wird« (15). In dem Buch wird das Motiv sinnlicher Wahrnehmung in der Erzählung des Johannes ins Visier genommen. Gerade weil dieses Motiv an vielen, aber unerwarteten Stellen begegnet, kann man es als stimmig, d. h. als eine kohärente, christologisch, ausgerichtete, theologische Aussage betrachten. Es ist evident, dass die johanneische Erzählung die sinnliche Wahrnehmung gerade an den Knotenpunkten der Jesusgeschichte hervorhebt. Das Motiv der Sinneswahrnehmung ist präsent in prominenten Texten, wo das Schmecken, Riechen und Fühlen als Akt der Wahrnehmung der Präsenz Gottes in Jesus dargestellt wird. Die sinnliche Wahrnehmung ist in folgenden Episoden erzählerisch und epistemologisch besonders hervorgehoben: bei der Hochzeit in Kana (Joh 2: Geschmack), der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus und der Salbung vor dem Einzug in Jerusalem (11–12: Geruch) sowie in der Thomasgeschichte (Joh 20: Tastsinn). In allen diesen Texten sind die sogenannten »niederen Sinne« an der Wahrnehmung beteiligt. Hier ist anzumerken, dass diese Thematik bereits durch verschiedene Arbeiten behandelt wurde, aber fast immer mit dem Akzent auf den sogenannten »höheren Sinnen« – Sehen und Hören (2). Dieses Motiv wird im Rahmen der johanneischen Inkarnationstheologie pädagogisch eingesetzt: Durch Christus wird ermöglicht, dass »sich das an sich unerkennbare Sein Gottes in der körperlichen Welt erkennbar abzeichnet« (348); die irdische Wirksamkeit Jesu erweist sich »als Möglichkeit innerweltlicher Begegnung mit dem ewigen Gott« (189). Für die Glaubenden ist das Ernstnehmen der endgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus stark mit der Geschichtlichkeit des Glaubens verbunden: Die geschichtlichen, d. h. sinn lich-körperlichen Erfahrungen wie Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Tasten sind für den Glauben konstitutiv. In Kana z. B. ge­schieht die Offenbarung der Herrlichkeit (2,11) über den Ge-schmack (188). Wenn man das literarische Spiel mit dem Motiv des Geruchs in den Kapiteln 11 und 12 näher betrachtet, wird man feststellen, dass die Todesgeschichte des Lazarus und die Todesgeschichte Jesu zusammen als eine Geschichte der Durchsetzung des Lebens gelesen werden sollen. Der Geruch des Todes, obwohl von Martha angekündigt (11,39), ist ausgeblieben, dafür aber wird der Geruch der Salbe ausgebreitet (12,3). »Diese sinnlich fassbare Vergegenwärtigung des geschichtlichen Heils, die Vergewisserung und Glauben schafft, ist eine der zentralen Perspektiven des Evangeliums.« (243)
Kann man, nachdem man dieses Buch gelesen hat, überhaupt noch vom Johannesevangelium als einem »geistlichen Evangelium« sprechen? Wenn man mit dem Vf. das Johannesevangelium so liest, dass die Gotteserkenntnis im fleischgewordenen Logos Jesus Christus geschieht, so dass Gott gesehen, gehört und betastet werden kann, was bleibt dann übrig von seinem »geistlichen« Gehalt? Gewiss wird man hier differenzieren müssen. Eine Wahrnehmung Gottes, die man sich als ein rein immaterielles, widersinnliches und unkörperliches Erlebnis denkt, entspricht keineswegs den epistemologischen Vorstellungen des Johannesevangeliums. Das haben die Exegese der wichtigsten Texte und der daraus folgende theologische Ertrag deutlich gezeigt. Dass aber der Geist eine prominente Rolle in der interpretativen Entwicklung der Jesusgeschichte des Johannes spielt, lässt in diesem Sinne weiter von seiner »Geistlichkeit« sprechen. Der Geist legt das sinnlich-körperliche aus, indem er ein sinnlich-körperliches Geschehen zum Heilsgeschehen macht. Er verleiht dem geschichtlich Geschehenen eine Metadimension, indem er nicht annullierend, sondern gerade affirmierend die sinnliche Erfahrung des Göttlichen in Jesus Chris-tus auslegt. Das Anblasen mit dem Heiligen Geist (20,22) »bedeutet eine weitere Stufe, wenn auch nicht körperlicher Wahrnehmung, so doch des körperlichen Kontakts« (292–293). »Insofern der gött-liche Logos Fleisch geworden ist, ist das ›geistliche Evangelium‹ zugleich ein Evangelium, das mit allen Sinnen ergriffen werden will und kann.« (350)