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Ausgabe:

September/2018

Spalte:

881–883

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Götte, Monika Elisabeth

Titel/Untertitel:

Von den Wächtern zu Adam. Frühjüdische Mythen über die Ursprünge des Bösen und ihre frühchristliche Rezeption.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 356 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 426. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-154847-5.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Dieses Buch von Monika Elisabeth Götte bietet nicht weniger als ein Kompendium zur Unde malum-Thematik im Alten Testament, im frühen Judentum und im frühen Christentum. Hauptsächlich strukturierend wirkt dabei der Gedanke, dass zuerst im Judentum und dann im Christentum zunächst die Wächterengelerzählung maßgeblich war für eine urzeitliche Herleitung des Bösen und dann die Adamerzählung.
Die Wächterengelerzählung handelt – in ihren je unterschiedlichen Ausprägungen – von einer Ordnungsverletzung der Wächter-engel vor der Sintflut (70–78; sie gingen Ehen mit menschlichen Frauen ein, sie verrieten himmlische Geheimnisse) und ist eng mit der Gestalt des Henoch verbunden bzw. ist erstmalig in breiterem Umfang durch die Henochliteratur bezeugt, wohl ab dem 3. Jh. vor Christus (46–47). Die biblische – und damit wohl prinzipiell alte – Adamerzählung war, wie es scheint, rezeptionsgeschichtlich lange inaktiv, wurde dann aber – später als die Wächterengelerzählung – zunehmend wichtig für eine Herleitung des Bösen; ein früher Beleg findet sich etwa in 4Q422 (176–178); auch die in qumranischen Texten gelegentlich anzutreffende Rede von einer – endzeitlich für die Frommen zu erwartenden – Herrlichkeit Adams dürfte mindestens zur Frühgeschichte einer adamitischen Herleitung des Bösen gehören (vgl. 178–181).
In diesem Rahmen finden auch satanologische Herleitungen des Bösen ihren Platz, im Traditionskomplex Wächterengelerzählung nur marginal, in der auf Adam bezogenen Überlieferung deutlich prominenter. Die satanologischen Traditionen modifizieren auf je unterschiedliche Weise den menschlichen Anteil am Bösen, der in der Wächterengelerzählung tendenziell reduziert erscheint, während der Adamerzählung mindestens das Potential einer hauptsächlich anthropologischen Herleitung des Bösen eignet. Randständig erscheinen Versuche einer deterministischen Herleitung des Bösen, bei der Gott als der Ausgangspunkt er­scheint, etwa Jes 45,5–7 (12–15) oder die Zwei-Geister-Lehre in 1QS III,13–IV,26, die G. einem neueren Forschungsstand entsprechend nicht mit Qumran in Verbindung bringt, sondern vorqumranischer Weisheitstradition zuordnet (19–25). Eine rein anthropologische Herleitung des Bösen vertreten ihr zufolge die Rabbinen mit ihrer Lehre von den zwei Trieben (33–36). Erkennbar ist eine Pluralität von Herleitungen des Bösen, aus der sich schließen lässt, dass eine Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Bösen nicht auf der höchsten Hierarchieebene des religiösen Systems von Judentum und Christentum steht (296–300).
Dies sind wesentliche Grundzüge der von G. präsentierten systemischen Rekonstruktion des religionsgeschichtlichen Befundes zur Unde malum-Thematik in den Religionen Israels bis in die Spätantike hinein. Ich habe sie nicht in indirekter Rede dargestellt, womit ich angedeutet zu haben gedenke, dass ich es im Wesentlichen genauso sehe. Lediglich bei der rabbinischen Lehre von den zwei Trieben, die bei G. allerdings kaum eine tragende Rolle spielt, verstehe ich den Befund leicht abweichend: Mir scheint hier bei G. das satanologische Moment übersehen. Es gibt eine rabbinische Gleichsetzung von Satan, Todesengel und bösem Trieb (vgl. Schimon ben Laqisch [um 250] in Talmud Babli, Baba Bathra 16a), überhaupt auch eine Rede von Satan bzw. Samael, die sich einigermaßen umstandslos einfügt in die satanologische Tradition des älteren Judentums, vgl. (immer noch) Hermann L. Strack/Paul Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, München 101994, I, 136–149.
Es ist ein Zeitraum von ca. 500 Jahren, den die vorliegende Studie in der Hauptsache umgreift. Zur Wächterengelerzählung werden unter anderem folgende Texte in den Blick genommen: Der biblische Referenztext (Gen 6,1–4), die Wächterengelerzählung in Hen 6–11 (innerhalb derer ein Schemichaza- und ein Asael-Traditionsstrang unterschieden werden), ihr Kontext in 1Hen 1–36, Reflexe der Wächterengeltraditionen in anderen Passagen des 1Hen, das Jubiläenbuch, das Genesisapokryphon von Qumran, die Testamente der 12 Patriarchen, 1Petr, Jud, 2Petr, Kirchenschriftsteller von Justin bis Commodian. Für den Adamkomplex werden unter anderem besprochen die biblischen Referenzerzählungen in Gen 1–5 (hauptsächlich Gen 3), einige verstreute Belege im 1Hen (wo Adam kaum eine tragende Rolle spielt), qumranische Belege (s. o.), das Jubiläenbuch, die Sapientia Salomonis, der 4Esra, der 2Bar, die Apokalypse des Mose und die Vita Adae et Evae, Paulus und andere neutestamentliche Schriften sowie schließlich Kirchenschriftsteller von Justin bis Laktanz.
Die neuere Sekundärliteratur scheint dabei durchgehend be­rücksichtigt. Wie bei Überblicksdarstellungen üblich, wird es im Detail immer Gelegenheit geben für eine abweichende Beurteilung der Situation durch den Leser bzw. Rezensenten. Ich greife zwei Fälle heraus, wo etwas mehr Durchsetzungswille gegenüber dem Sekundärliteraturbefund nützlich gewesen wäre. So folgt G. einerseits in der Beurteilung der Luzifertradition dem von mir vorgegebenen Weg, indem sie diese als ein traditionsgeschichtlich spätes Produkt ansieht (ihr zufolge hat sie sich zu Beginn des 3. Jh.s herausgebildet [32], sie ist aber schon bei Tertullian bezeugt und dürfte ins 2. Jh. zurückgehen). Andererseits scheint sie es aber offen zu lassen, inwieweit sie im 2Hen zu den tragenden Elementen gehört (196), vermutlich, weil hier Dochhorn (kein Kenner des Kirchenslavischen) gegen Orlov steht (der es vermutlich sogar spricht). Aber wenn der Luzifermythos eine tragende Rolle im 2Hen spielte, dann müsste der 2Hen wohl christlich sein, denn ich habe den Luzifermythos von christlichen Voraussetzungen hergeleitet, vgl. ZThK 109 (2012), 3–47, speziell 34–46. In einer solchen Situation sollte man sich entscheiden. Ähnliches gilt bei der Beurteilung der Apokalypse des Mose: G. zitiert meine (auf ca. 600 Seiten entfaltete) Einschätzung, dass die ApcMos auf Arbeit am hebräischen Bibeltext basiere (vgl. Jan Dochhorn: Die Apokalypse des Mose. Text, Übersetzung, Kommentar, Tübingen 2006), lässt dann aber offen, ob es sich um ein christliches Werk handele, obwohl auch sie Christusbezüge vermisst (216).
Wo wäre im frühen Christentum ein solches Werk zu verorten? Auch hier ist eine Entscheidung fällig: Die Apokalypse des Mose ist eine jüdische Komposition. Zu datieren ist sie übrigens früher, als dies anscheinend bei G. geschieht, die sie nach dem 4Esra und dem 2Bar bespricht, durchaus in Übereinstimmung mit meiner 2006 entfalteten Sicht. Ich wundere mich indes mehr und mehr, dass kaum jemand fragt, auch G. nicht, warum die adamitische Herleitung des Bösen bei Paulus so selbstverständlich erscheint und dann auch im 4Esra und 2Bar. Wo ist der Ausgangspunkt für diese Traditionsbildung? Bei der Apokalypse des Mose und der Vita Adae et Evae, zwei in der Antike (weniger in der neutestamentlichen Forschung) nachweislich weithin rezipierten Werken, hat man ihn bisher wohl nur wenig gesucht, obwohl dies doch eigentlich naheliegt. Man wird sie früher datieren müssen – vor und in die Nähe des Paulus, vgl. Jan Dochhorn: Die Adamdiegesen und das Neue Testament, in: F. Amsler etc.: La Vie d’Adam et dÉve et les traditions adamiques, Lausanne 2017, 57–75.