Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

65 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bickmann, Jutta

Titel/Untertitel:

Kommunikation gegen den Tod. Studien zur paulinischen Briefpragmatik am Beispiel des Ersten Thessalonicherbriefes.

Verlag:

Würzburg: Echter 1998. XII, 365 S. gr.8 = Forschung zur Bibel, 86. Kart. DM 48,-. ISBN 3-429-01994-X.

Rezensent:

Udo Schnelle

Diese in Münster bei K. Löning angefertigte Dissertation bietet zweierlei: 1) einen Beitrag zur Form und Gattung der Paulusbriefe und 2) eine Analyse und Interpretation des 1. Thessalonicherbriefes auf der Basis der zuvor erarbeiteten Brieftheorie.

Der erste Hauptteil setzt mit einer forschungsgeschichtlichen Standortbestimmung ein, die von A. Deissmann bis in die unmittelbare Gegenwart führt. Obwohl in der neueren Forschung zahlreiche weiterführende Ansätze vorliegen (Berger, Taatz, Schnider-Stenger, Stowers) stellt die Vfn. fest: "Es fehlt jedoch immer noch ein umfassender texttheoretischer Ansatz, der Briefe unter Berücksichtigung einzelner Formelemente in ihrer spezifisch kommunikativen Dynamik erfaßt. Die an der antiken Rhetorik orientierte Forschung vermag nur unzureichend Ersatz zu bieten, da sie die Spezifika brieflicher Kommunikation nicht zu beschreiben vermag, Briefe vielmehr als unvollkommene Rede versteht" (30).

Auf diesem Hintergrund versucht die Vfn. einen eigenen pragma-linguistischen Ansatz zu entwickeln, der sich wesentlich an der Sprechakttheorie orientiert. Zunächst werden die grundlegenden Einsichten der Sprechakttheorie dargelegt, wonach Sprechen (auch durch Texte) immer als eine Form gesellschaftlichen Handelns aufzufassen ist. Es folgt eine Darstellung der einzelnen Elemente der Sprechtakttheorie im Anschluss an J. R. Searle. Den Übergang zum Untersuchungsgegenstand stellt die Vfn. durch die Beobachtung her, dass antike Rhetorik und an der Sprechakttheorie orientierte moderne Textlinguistik keineswegs im Gegensatz, sondern im Verhältnis der Ähnlichkeit stehen, denn "beide sind pragmatisch ausgerichtet und rezeptionsorientiert" (45). Die Sprechakttheorie kann die Ergebnisse der Rhetorik aufnehmen, zugleich geht sie aber über jene hinaus, indem sie auch Kommunikationssituationen erfasst, die im nicht-öffentlichen Bereich angesiedelt sind. Zudem vermag die Sprechakttheorie schriftkonstituierte Kommunikation als ein eigenständiges sprachliches Handeln zu erfassen, das keineswegs der Rede unterzuordnen ist. Briefe können als eine dynamische zielorientierte Kommunikationsform beschrieben werden, die immer unter bestimmten Handlungs- und Erfolgsbedingungen steht. Während die Sprechakttheorie sich auf den Handlungsaspekt des kommunikativen Aktes bezieht, beschreibt die Texttheorie die sprachlichen Grundlagen dieses Aktes. Die Handlungsdimensionen eines Textes können nur dann erfasst werden, wenn zunächst die konstitutiven Elemente des Textes selbst benannt sind. Dazu gehören ein sachgemäßes Kommunikations-Modell und die Strukturdimensionen eines Textes: sprachlich-syntaktische, semantische und pragmatische Dimension.

Nach einer Darstellung der Bedingungen des antiken Briefes als Kommunikationsform wendet die Vfn. ihr Modell auf den 1Thess an. Dabei ist es ihr Ziel, "aufzuzeigen, daß und inwiefern die Kommunikation zwischen Paulus und seinen Adressaten und Adressatinnen sich nicht auf theologische Systematik reduzieren läßt, sondern durch die Brieflichkeit der Kommunikationsform maßgeblich bestimmt wird" (89). Die These der sich anschließenden Analyse des 1Thess lautet: "1Thess ist als antiker Trostbrief zu beschreiben, d. h. einerseits als ein strukturiertes Gefüge von Sprechakten, dessen dominierender illokutionärer Akt Trösten ist, andererseits als Text, der unter den Bedingungen der antiken Kommunikationsform ,Brief’ zu verstehen ist" (90). Die Voraussetzung für das Gelingen der Briefintention des Tröstens ist ein gemeinsames Wirklichkeitsverständnis zwischen Autor und Adressaten, das die Vfn. in einer jüdisch-apokalyptisch geprägten Weisheit sieht.

Diese Grundthese wird durch eine minutiöse Analyse der Struktur des 1Thess abgesichert. Die Gliederungssignale zeigen, dass eine bewusste Struktur des Briefes bis hin zu Teiltexten vierten Grades nachgewiesen werden kann. Es lassen sich zwei Hauptteiltexte abheben (1Thess 1,2-3,13 und 4,1-5,24) wobei 1Thess 1,2; 4,1 und 5,27 als Explizierungen der Sprechhandlung eine besondere Bedeutung zukommt. Nach der Gliederung des Textes wendet sich die Vfn. zunächst einer Analyse der Eröffnung und der Beendigung der Kommunikation zu (1Thess 1,1 und 5,25-28). Es folgt eine Re-Konstruktion der Beziehung zwischen Apostel und Gemeinde (1Thess 1,2-2,16), die ebenso wie die Untersuchung der folgenden Texteinheiten (Konstruktion des Todes: 1Thess 2,17-3.10; Aufhebung der Trennung - Vollendung der Gemeinschaft: 1Thess 3,11-13; 4,1-5,24) im Dreischritt einer Analyse der sprachlich-syntaktischen, der semantischen und der handlungsorientierten Strukturen erfolgt. Der 1Thess stellt ein komplexes Sprechhandlungsgefüge dar, das unter den Bedingungen der Kommunikationsform Brief den Hörern und Hörerinnen die Verarbeitung der Todeserfahrung ermöglicht.

Im abschließenden Teil der Arbeit ordnet die Vfn. das Trösten als sprachliche Handlung im antiken Kontext ein. Trösten als Form kommunikativen Handelns mit dem Ziel der Bewältigung von Leidenserfahrungen wird zunächst in griechisch-römischen Texten thematisiert. Das Ergebnis ist eher negativ; das Thema Trost gehört bei den philosophischen Trosttexten in das Gebiet der praktischen Philosophie, die auf die gedankliche und praktische Verarbeitung der Todesproblematik zielt. Demgegenüber sieht die Vfn. zahlreiche Übereinstimmungen zwischen dem 1Thess und der Trostthematik im Alten Testament und in Schriften des antiken Judentums. Danach entspricht Leiden und Tod der verfolgten Gerechten nicht dem Willen Gottes. Auch der 1Thess erhält den Anspruch aufrecht, dass durch Gottes rettendes Eingreifen die Grenze des Todes aufgebrochen wird. Nicht nur die vergleichbare Konstruktion der Wirklichkeit verbindet den 1Thess mit jüdischen Texten, vor allem die Art und Weise der Kommunikation zeigt Kontinuität: In der Gegenwart des Leides tröstet das Wissen um Gottes verheißenes Eingreifen.

Die Grundthese der Arbeit überzeugt: Der 1Thess ist ein antiker Trostbrief, der darauf zielt, die gefährdete Identität der Thessalonicher zu stabilisieren. Ein weiterer Vorzug der Arbeit liegt in den minutiösen Textanalysen, die zwar theorieüberladen sind, aber dennoch die Vielschichtigkeit der Kommunikation zwischen Paulus und den Thessalonichern erfassen.