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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

62–64

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bell, Richard H.

Titel/Untertitel:

No one seeks for Good. An Exegetical and Theological Study of Romans 1.18-3.20.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1998. XXIV, 359 S. gr. 8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 106. Lw. DM 158,-. ISBN 3-16-146864-3.

Rezensent:

Reinhard von Bendemann

Richard H. Bell, der an der Universität Nottingham lehrt, legt eine exegetisch vielschichtige und theologisch ambitionierte Untersuchung zum ersten Hauptteil des Römerbriefes, Röm 1,18-3,20, vor, mit der er die Arbeit seiner Dissertation über das Eifersuchtsmotiv in Röm 9-11 fortführt (siehe die Besprechung durch Christof Landmesser in ThLZ 120, 1995, 434-436). Zum einen bietet B. eine fortlaufende Interpretation des paulinischen Textes, die besonders Gewicht auf traditionsgeschichtliche Fragen legt. Zum anderen differenziert er theologische Leitfragen aus, die in Exkursen und summarischen Abschnitten Gegenstand der Diskussion sind.

Kapitel I (Introduction, 1-20) dient der Bestimmung der Struktur, Funktion und Thematik von Röm 1,18-3,20 im Aufriss des Römerbriefes. Ziel des Apostels ist der Nachweis, "that both Jews and Gentiles need the righteousness of God which they can only gain through faith" (3).

Kapitel II führt in den ersten Unterabschnitt ein ("Introduction and Exegesis", 21-61). Röm 1,18-32 wird als entlarvende Anklage sowohl an die jüdische als auch an die heidnische Adresse begriffen (24 f.) und vor dem Hintergrund sapientialer (siehe weiter 75-77 zur möglichen Abhängigkeit von Weish; 85-89 zu Prov 8,22-31; Sir 24; Weish 7,21-8,1) und jüdisch-apokalyptischer Aussagen erschlossen (siehe weiter 82-84). In der Herausstellung möglicher Bezüge zu Gen 1 (vgl. Röm 1,23) bzw. zu Gen 2 f. (unter Hinweis auf frühjüdische Deutungen der Versuchung Evas durch die Schlange; 24 f. Anm. 22) sowie auch zur Erzählung vom goldenen Kalb (26, 52, 94 Anm. 160, 125-131/Ps 106,19 f.; vgl. Apg 7,41 f.; Jer 2,11) entdeckt B. in Röm 1,18-32 das Gefälle einer Unheils-Story (116, 239).

Hinter der menschlichen Unentschuldbarkeit steht göttlicher Plan (47: Röm 1,20/11,32a). Röm 1,22-31 erschließt sich im Wechsel von Anklage und Vergeltung (53). In Röm 1,25-27 "Paul does to some extent work with the category of what can be called ’natural law’" (56). Im Blick auf Röm 1,26 f. wird die Annahme begründet zurückgewiesen, Paulus setze sich hier allein kritisch mit der Praxis nicht-koitalen Geschlechtsverkehrs auseinander. Auch sind mit dem unnatürlichen Verhalten nicht nur Päderastie oder gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen heterosexuell orientierten Menschen im Blick (57 f.).

Kapitel III dient der traditionsgeschichtlichen und thematischen Vertiefung des ersten exegetischen Arbeitsganges ("Issues arising", 62-131). Es bestätigt sich: Die paulinischen Aussagen erschließen sich vor einem hellenistisch-jüdischen Hintergrund.

Die Exegese von Röm 2,1-16 in Kapitel IV ("Judgement According to Works", 132-183) ist von der Fragestellung geleitet, welche Funktion der Aussage von der Rechtfertigung der ,Täter des Gesetzes’ in Röm 2,13 (vgl. 2,6) in ihrem Kontext zukommt. Der Zusammenhang diene dem Schuldaufweis gegenüber Juden und Heiden, wobei 2,14-16 auch nach B. speziell auf die Anklage der Heiden zielt (153). Das "Gesetz" in Röm 2,14 f. wird auf dem Hintergrund der frühjüdischen Vorstellung von ,ungeschriebener Tora’ interpretiert (154-157). In verschiedenen Exkursen werden TestJud 20, Aussagen in den Targumim (Targum Jer I Gen 1,27), verschiedene rabbinische Stellungnahmen zum Gesetz in seiner Funktion im Blick auf die Heiden sowie griechisch-philosophische und jüdische Stimmen zur Vorstellung eines ,natürlichen Gesetzes’ diskutiert (162-182). Eine Abhängigkeit von stoischen Vorgaben wird zurückgewiesen.

Röm 2,17-3,8 richtet sich nach B. an den "self-righteous Jew" (Kapitel V: 184-209). B. erkennt ein (partielles) Recht der Position Bultmanns, nach der die ,Gesetzesgerechtigkeit’ eo ipso in die Sünde führt, insofern sie der Ichkonstitution des Menschen im ,Rühmen’ dient (187, ausführlich 264ff.). In Röm 2,25-29 aber gehe es nicht um die ekklesiologische Problematik von Juden und Heiden, sondern um den Nachweis, dass die Beschneidung ohne Tun des Gesetzes nichts nützt. Röm 3,1-8 wird als Digression interpretiert, die Röm 9-11 vorgreift (201-209).

In Kapitel VI ("Jew and Gentile under the Power of Sin", 210-237) analysiert B. den frühjüdisch-exegetischen Hintergrund der Schriftzitate in Röm 3,9-20 und diskutiert ausführlich das Problem der ,Werke des Gesetzes’ in Röm 3,20. Sein Resultat lautet in kritischer Abgrenzung gegen Dunn, dass "focusing on ’boundary markers’ misses the point". Paulus gehe es vielmehr um die Werke, die die Tora fordert (234 f.).

Kapitel VII ("Concluding Discussion", 238-275) diskutiert zusammenfassend die "theological issues", auf die die Exegese gestoßen ist (vgl. 103 zum Ziel der Exegese). Zum Problem des Gerichts nach Werken untersucht B. die Vorstellung eines Gerichts nach der ,Mehrzahl der Werke’, die bei den Rabbinen begegnen kann, und erörtert die paulinische Sicht (239-257; vgl. Gal 5,3). Ein Hauptinteresse gilt aber dem (alten) Problem einer ,natürlichen Offenbarung’ bzw. einer ’theologia naturalis’ (B. besitzt über seine theologisch-exegetische Qualifikation hinaus einen Ph. D. in theoretischer Atomphysik). B. sucht zwischen der kritischen Position K. Barths, wie sie insbesondere im "Nein" an E. Brunner, darüber hinaus aber auch in der Auseinandersetzung mit jeder Form von Analogia-entis-Lehren zum Ausdruck kam, und der Konzeption einer ,Uroffenbarung’ bei P. Althaus zu vermitteln (102-118). Er ist sich dabei dessen bewusst, dass bereits Barth vor entsprechenden Vermittlungsversuchen gewarnt hat. B. unterscheidet zwischen einer "Theologie der Natur" und einer "natürlichen Theologie" (73). Die These einer ,natürlichen Theologie’ weist B. für Paulus zurück (99 f.). "Paul’s argument has nothing to do with an analogia entis as one finds in Hellenism" (46). Die isolierte Frage nach den Attributen Gottes verfehle die paulinische Aussageintention (28-34, 45). Röm 1,22 gilt (in Verbindung mit 1Kor 1,18-25) als paulinisches Urteil über "die Religion" (54), "the world does not reveal God on the basis of the world being God’s image" (80). Dagegen gebe es eine (natürliche) Offenbarung insofern und nur insofern, als Gott sich in seinen Schöpfungswerken in eigener Initiative selbst kundmacht (Röm 1,19b). Christen - sofern sie der Sünde als Macht entnommen sind - vermögen so "something of God in the created order" zu erkennen (117 f., 273).

Darf man aber auf der Grundlage eines weisheitlichen Hintergrundes derart systematisieren, dass die Offenbarung in Röm 1,18-32 zugleich eine christologische ist (so 89-92)? Auch wenn es eine sachlogische Parallelität der Argumentation zu 1Kor 1,18 ff. gibt, so widerspricht diese Konstruktion doch der paulinischen Argumentationsabsicht und -strategie in Röm 1,18 ff. Die Rede von "Christ’s role in natural revelation" (114; vgl. 202) ist für Röm 1 problematisch. Kann von einem "actual judgement (through Jesus Christ)" (136) für Röm 2,16 gesprochen werden, wenn B. selbst eine futurische Ausrichtung der Aussage voraussetzt (148)? Nach B.s Meinung erschließt sich die von Paulus in Röm 1,18-3,20 herausgearbeitete hoffnungslose Situation der Menschheit coram Deo bereits ganz unter dem Gesichtspunkt des ,in Adam-Seins’ (97, 101 f., 263, 271 f. und passim). Ohne Frage ist die Sünde in Röm 3,9 als "ontological problem" angesprochen (213). Darf man aber insgesamt das Gefälle der paulinischen Argumentation derart umdrehen und Röm 5,12-21 gewissermaßen in 1,18 ff. rückprojizieren, ohne dem Abschnitt seine Eigenspannung zu nehmen? Mitunter wünschte man sich eine stärkere Würdigung möglicher Gegenargumente. Beispielsweise, wenn Apg 22,3 als historisch gewertet wird, ohne dass die Gegenprobe der lukanischen Konzeption gemacht würde (82, 243 f.). Über die Auswahl und Auswertung des reichen traditionsgeschichtlichen Materials wäre an manchen Stellen zu streiten. Beispielsweise über das Urteil, Paulus sei "more faithful to the Old Testament tradition ... than the Hellenistic Jewish texts are" (81; vgl. 250: "the view of normative Judaism"). Bedenken sind bei der generalisierenden Behauptung angezeigt: "For the Greeks, nature was the more important category and law was an arbitrary subjective judgement" (174). Methodisch droht die Gefahr, dass zu viel auf einmal intendiert wird, wenn antikjüdische, frühchristliche, altkirchliche, reformatorische und neuzeitlich-theologiegeschichtliche Positionen auf engstem Raum in ein Gespräch gebracht werden (vgl. z. B. 14 f., 36 f., 43-45, 102-118, 256 ff., jeweils mit Anmerkungen).

Insgesamt ist B. dafür zu danken, dass er Röm 1,18-3,20 als eigengewichtigen Zusammenhang des Römerbriefes unter den gewählten Fragestellungen erneut ins Zentrum des Interesses gerückt hat. Insbesondere dürfte seine kritische Auseinandersetzung mit der gegenwärtig im angelsächsischen Sprachraum auf dem Vormarsch befindlichen Auffassung weiterführend sein, nach der die paulinische Rechtfertigungslehre sich in einer Kritik am Gesetz erschöpft, sofern dieses Israel privilegiere und die Heiden ausschließe (6, 200, 224-236 und passim). Weitere Arbeiten B.s zur paulinischen Theologie (vgl. 10 Anm. 43) sind mit Spannung zu erwarten.