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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

842–845

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Pilnei, Oliver, u. Martin Rothkegel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aus Glauben gerecht. Weltweite Wirkung und ökumenische Rezeption der reformatorischen Rechtfertigungslehre.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 182 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-04572-3.

Rezensent:

Margit Eckholt

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Thönissen, Wolfgang: Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit?Das ökumenische Ringen um die Rechtfertigung. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt; Paderborn: Bonifatius Verlag 2016. 246 S. Kart. EUR 22,90. ISBN 978-3-374-04551-8 (EVA); 978-3-89710-673-4 (Bonifatius).


In Kooperation von theologischer Hochschule Elstal und evan-gelisch-freikirchlicher Akademie in Elstal fand vom 12. bis 14. No­vember 2016 eine Tagung statt, die sich mit der weltweiten Wirkung und ökumenischen Rezeption der Reformatorischen Rechtfertigungslehre auseinandergesetzt hat. Die Rechtfertigungslehre ist heute nicht mehr wie in der Moderne der »identity marker« (5, Vorwort) innerhalb der evangelischen Kirchen und für die Abgrenzung zur römisch-katholischen Kirche, sondern neue exegetische Zugänge zu Paulus, eine katholische Annäherung an Martin Luther und die Erarbeitung einer ökumenischen Hermeneutik auf katholischer Seite durch das 2. Vatikanische Konzil haben den Weg zur Unterschrift der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) vorbereitet, der sich 2006 der Weltrat methodistischer Kirchen angeschlossen hat und 2017 die Weltgemeinschaft der reformierten Kirchen. Zudem ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer massiven Pluralisierung im Protestantismus gekommen, »die Mehrheit der Protestanten lebt in kulturellen Kontexten«, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, »für die die kollektive historische Erinnerung an den epochalen Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in der Reformation geringe oder keine Bedeutung hat« (5, Vorwort). Es hat sich in den Ländern des Südens, in Lateinamerika, Afrika und Asien, eine Gestalt des Protestantismus freikirchlichen Typus ausgebildet, für die nicht Rechtfertigung von Bedeutung ist, sondern für die »Christwerden sich in Form einer persönlichen Bekehrungserfahrung vollziehe« (5). Dass die Rechtfertigungslehre aber auch in diesen Prozessen der neuen Pluralisierung des Christentums weiterhin von Bedeutung ist und »Reformation« ein bleibender gemeinsamer Auftrag aller christlichen Kirchen ist, machen die aus der Tagung hervorgegangenen Beiträge der vorliegenden Publikation deutlich, die fundierte wissenschaftliche Perspektiven von weltweit renommierten Experten sammelt zu einer differenzierten biblisch- und systematisch-theologischen Annäherung an die Frage der Rechtfertigung in einer ökumenischen Perspektive auf der einen Seite und einem fundierten theologischen Blick auf den aus der Reformation des 16. Jh.s erwachsenen innerprotestantischen Pluralisierungsprozess in freikirchlichen Perspektiven.
Uwe Swarat, Professor für Systematische Theologie und Dogmengeschichte in Elstal, Mitglied des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses und der Commission on Doctrine and Chris-tian Unity des Baptistischen Weltbundes, legt den Band eröffnend aus baptistischer Perspektive einen kritisch-affirmierenden Blick auf Luthers »simul iustus et peccator« vor, das nicht »statisch zu verstehen (sei), sondern als durch Spannung erzeugte Bewegung, als Kampf des Heiligen Geistes im Christen gegen die Sünde« (11); insofern spricht er von einer »wachsenden Gerechtigkeit« (12), spielt aber Rechtfertigung nicht gegen die Taufe aus, sondern be­zieht sich auf den Gründer des kontinental-europäischen Baptismus Johann Gerhard Oncken (1800–1884) und bezeichnet die Taufe als »Eintritt in das neue Leben im Glauben« (31) und als »ständige Abkehr vom Bösen und Hinkehr zu Gott« (ebd.). Im Beitrag von Carsten Claussen, Neutestamentler in Elstal, wird an die »Neue Paulus-Perspektive« erinnert, wie sie 1977 von Ed Parish Sanders vorgelegt worden ist, und diese weitergeführt über die paulinische Leitperspektive von Gal 3,28, die das Ereignis der Gnade Gottes in einer weiten ökumenischen Dimension erschließt. Ein katholisch-ökumenischer Blick auf die Paulus-Lektüre durch Luther wird von Thomas Söding vorgelegt, Vorsitzender des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses und Mitglied der Internationalen Lu­therisch/Römisch-katholischen Kommission für die Einheit der Christen; er stellt die Kontinuität in der Theologie Luthers in seinem Zugang zu Paulus vor und nach 1517 heraus und macht deutlich, dass, wenn »der Papst nur halb so einsichtig gewesen (wäre) wie Petrus, hätte der Exeget Luther eine sehr viel bessere Chance für eine Reform der Kirche sehen können« (82). Luther sei ein »inspirierter Exeget« (82) gewesen und seine Paulusauslegung beinhalte »eine fulminante Reformtheologie, die in der katholischen Kirche und für sie entstanden ist« (82).
Der in diesen drei präzisen Beiträgen gelegte theologische Grund für einen ökumenischen Zugang zur Rechtfertigungslehre wird in den folgenden drei Beiträgen in den Kontext der weltweiten Ausdifferenzierung des Protestantismus in Gestalt eines freikirchlichen, evangelikalen und pfingstlichen Typus gestellt. William H. Brackney, Professor für Christian Thought and Ethics an der Acadia University in Neu-Schottland und dort Direktor des »Acadia Centre for Baptist and Anabaptist Studies«, weist auf die Verschiebungen des Rechtfertigungsdiskurses im nordamerikanischen Kontext in Neuengland bei den Puritanern, den Baptisten im 17. Jh. und den aus dem Pietismus erwachsenen Erweckungsbewegungen im 19. Jh. hin. Was ursprünglich mit Rechtfertigung verbunden war, wird zu einer »erfahrungsorientierten Bekehrungsfrömmigkeit« (6), in der dem Zeugnis, der Heiligung und Glaubensentwicklung Bedeutung zukommt. Einen Schritt weiter geht Erich Geldbach, von 1997 bis zu seiner Emeritierung 2004 Inha-ber des Lehrstuhls für Ökumenik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, mit seinem Blick auf die eigenständigen afrikanischen Freikirchen, wie z. B. die afrikanische methodistische Kirche in den USA, in denen es auf dem Hintergrund von Rassismus und Unterdrückung zu einer neuen Lektüre der Lehre von der Rechtfertigung gekommen ist und sich eine »Black Theology« entwickelt hat, die die Erfahrung von Befreiung < /span>und Freiheit mit afro-amerikanischer Frömmigkeit und »erfahrungsorientierte[n] Konzepte[n] einer Umwandlung in die neue Kreatur« (123) verbindet. Diese »gewissermaßen vordogmatisch« (118) zu verstehenden Momente rücken in den letzten Jahren durch das massive Wachsen der Pfingstbewegung in den Vordergrund. Das entfaltet Frank Lüdke, Kirchengeschichtler an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg, unter den Stichworten Freiheit, Erlebnis (die Bedeutung emotionaler und körperlicher Erfahrungen) und Veränderung.
Abgeschlossen wird der Sammelband durch einen kreativen Beitrag von Wilfried Härle, Emeritus für Systematische Theologie an der Universität Heidelberg, der auf die Notwendigkeit der Übersetzung der Rechtfertigungsbotschaft in die Gegenwart hinweist, es geht immer wieder neu um die »heilsame Beziehung Gottes« (162) zum Menschen, für die auch heute der Begriff der »Gerechtigkeit« ein zentraler bleibt. »Gerechtigkeit Gottes« ist für Härle dabei »die Treue Gottes, durch die Gott dem Menschen seine Barmherzigkeit zuspricht und erweist, und ›Gerechtigkeit vor Gott‹ ist das dadurch geweckte Vertrauen des Menschen auf Gott, durch das er sein Herz im Leben und im Sterben an den Gott hängt, der sich in Jesus Christus zum Heil der Welt offenbart hat« (175). Das ist ein »wechselseitiges Anerkennungsverhältnis«, das von seiner Struktur her zwar »asymmetrisch« ist, aber entscheidend ist – und damit legt Härle ein ökumenisch offenes Konzept vor – die lebendige Kommunikation zwischen Gott und Mensch.
Das Reformationsgedenken fand 2017 zum ersten Mal in einem ökumenischen und globalen Weltkontext statt, darauf hat auch das Vorbereitungsdokument auf das Gedenken »Vom Konflikt zur Gemeinschaft« (2013) hingewiesen. Leider ist genau diese internationale ökumenische Perspektive im deutschsprachigen Kontext im Jahr 2017 kaum in den Blick genommen worden, und darum kommt der vorliegenden Publikation besondere Bedeutung zu, gerade durch die fundierte theologische Brücke, die durch die weiterführenden ökumenischen Perspektiven vom reformatorischen Grundprinzip der Rechtfertigung zu den vielfältigen Ausdifferenzierungen des Protestantismus in seiner freikirchlichen Ausprägung geschlagen worden sind. Ökumene ist in der wachsenden Pfingstbewegung in den Ländern des Südens oft kein Thema, dass es aber ein solches sein kann und sollte, gerade angesichts der Gefahr einer Fragmentarisierung christlichen Glaubens, macht die Publikation deutlich. Sicher fehlt ein erweiterter Südhorizont und insofern bleibt auch die vorliegende internationale Perspektive beschränkt. Erich Geldbach hat die schwarze Befreiungstheologie benannt und eine Brücke zum Thema von Befreiung und Freiheit geschlagen, dies ist angesichts der Armuts- und Gewaltkontexte in den Ländern des Südens weiter zu vertiefen.
Auf diesem Lesehintergrund könnte der Titel der von Wolfgang Thönissen, leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Paderborn, 2016 vorgelegten Publikation »Ge­rechtigkeit oder Barmherzigkeit? Das ökumenische Ringen um die Rechtfertigung« gerade eine solche Perspektive versprechen, zumal T. in seinem Vorwort bewusst den globalen Kontext des Pontifikats von Papst Franziskus anspricht. Die Lektüre der in diesem Band aus verschiedenen Jahren zusammengestellten Beiträge (zu Martin Luther, den Kontroversen um Ablass, Buße und Gnade, zur Theologie der Rechtfertigung und Katholizität bei Luther – ohne jedoch auf das Ersterscheinen dieser Texte hinzuweisen) enttäuscht in dieser Hinsicht jedoch mehrfach. Ein internationaler Horizont wird nicht aufgetan, die Beiträge versteht T. als »Be­gleitmusik für den lutherisch-katholischen Bericht« »Vom Konflikt zur Gemeinschaft«, er beschränkt sich auf die bekannten Topoi und stellt Luther als »wahrhaft katholischen Denker und Theologen, einen katholischen Konfessor und Reformator« (200) vor, der die »Katholizität der Kirche in einer bestimmten Strukturform und Ordnung zur Geltung gebracht« (ebd.) habe. Warum das Lehramt dann nicht die Verurteilungen Luthers zurückgenommen hat, diskutiert T. nicht. Sicher macht er deutlich, dass diese »Katholizität« sich in der »Ökumenizität« vollziehe (181), aber ob hier nicht doch Reminiszenzen an die »Rückkehr-Ökumene« mitschwingen, darf gefragt werden. »Die katholische Kirche kann die ihr anvertraute Katholizität nur verwirklichen und ausprägen, wenn sie die von ihr getrennten Kirchen und Gemeinschaften mit auf diesen Weg der Katholizität mitnimmt und sie zugleich darin anerkennt.« (181)
Spannend wäre es gewesen, den Blick auf die im Vorwort be­nannte orthodoxe Christenheit zu weiten oder den Weltkontext, für den das Pontifikat von Franziskus steht, einzubringen. Darum ist es zu wünschen, dass das 500-jährige Reformationsgedenken weiter Geschichte macht und mit dem Jahr 2017 nicht »abgeschlossen« ist; es wird gerade darum gehen, den internationalen ökumenischen Horizont zu vertiefen. Die ökumenischen Dialoge der letzten Jahre haben den gemeinsamen christlichen Kern deutlich gemacht, und es ist zu wünschen, dass die »heilsame Nähe Gottes« (Wilfried Härle) auf der einen Seite im Dialog mit der Orthodoxie herausgearbeitet wird und auf der anderen Seite das Fundament für den noch anstehenden Dialog mit den vielen neuen freikirchlichen Gemeinschaften in den Ländern des Südens darstellt. Dieses gemeinsame Christuszeugnis wird auch in Zukunft in einer fragmentierten und von vielfältigster Gewalt geprägten Zeit von zentraler Bedeutung sein.