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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

60–62

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan, u. Ralph Brucker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Exegese und Methodendiskussion.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 1998. XIX, 302 S. 8 = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 23. Kart. DM 96,-. ISBN 3-7720-1874-2.

Rezensent:

Andreas Lindemann

In der neutestamentlichen Exegese spielen gegenwärtig Methodenfragen eine erhebliche Rolle, so dass geradezu der Eindruck entstehen kann, das Bemühen um das Verstehen der Inhalte der auszulegenden Texte trete dahinter zurück. Der hier zu besprechende Band enthält nach einer von den Herausgebern als "Plädoyer" für die Interdisziplinarität der Exegese bezeichneten Einleitung vierzehn Beiträge; sie befassen sich z. T. mit theoretischen Fragen der Textwissenschaft, z. T. mit konkreten Texten aus der neutestamentlichen Erzähl- und Briefliteratur und in zwei Fällen mit Beispielen für reale interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Einleitung beginnt mit der Feststellung, dass die "Unzufriedenheit mit historisch-kritischer Exegese ,alten Stils’" wachse, weil diese sich zu sehr mit Hypothesen über das "hinter" den Texten Liegende und zu wenig mit den Texten selbst befasse (IX).

Ob die "aus der Pfarrer- und Lehrerschaft" kommende Kritik wirklich diese Gründe hat, kann man fragen; in den folgenden Beiträgen, die die Exegese "alten Stils" überwinden wollen, sind die eingangs so betont eingeführten "Praktiker" denn auch kaum noch im Blick. Die Einleitung beklagt, dass sich die gegenwärtige Exegese am geschichtswissenschaftlichen Diskurs nicht beteilige, und deshalb sei in jüngster Zeit die Wissenschaftlichkeit der Theologie in Frage gestellt worden (XII). Die Herausgeber betonen nun ihrerseits, sie wendeten sich "in keinster [!] Weise gegen diachrone Arbeitsweisen", doch dürfe sich die Methodologie nicht "auf die programmatischen Schritte eines klassischen historisch-kritischen Proseminars" beschränken, sondern müsse fragen, "was Geschichte, was Wirklichkeit, was Sprache, was ein Text ist, bzw. wie wir sie heute unter den Bedingungen unserer Lebenswelt auffassen können" (XIII). Ziel sei es, die entstehende Theoriedebatte in der deutschsprachigen Exegese dadurch zu fördern, dass die verschiedenen eher nebeneinander existierenden als miteinander diskutierenden Neuansätze in einem "handbuchartige[n] Überblick" vorgestellt werden (XIII; als ursprünglicher Buchtitel sei deshalb "Neutestamentliche Exegese interdisziplinär" vorgesehen gewesen, auf Wunsch der Herausgeber der Reihe dann aber geändert worden). Die beiden Herausgeber bieten dann eine knappe Inhaltsangabe der Beiträge, ohne dass dabei das geforderte "miteinander streitende und sich gegenseitig beratende Gespräch" allerdings schon zum Zuge käme.

Eckart Reinmuth setzt sich mit dem "Streit um die Auferstehung Jesu nach der Moderne" auseinander (1-20), wobei er in Anknüpfung an das Geschichtsverständnis von W. Pannenberg und G. Lüdemann unterschiedliche Positionen in der gegenwärtigen Debatte zur Geschichtstheorie vorstellt; gegen die durch Lüdemann (wieder) belebte positivistische Diskussion, ob Jesu Auferstehung ein "brutum factum" sei, stellt R. fest, dass die Texte "es wagen, die Unanschaulichkeit des bezeugten Geschehens zu bewahren" (17). Das ist sicher richtig, aber nicht neu; unklar bleibt, warum es dann dennoch heisst: "Seine Tatsächlichkeit ist unlöslicher Bestandteil der im dargelegten Sinn historischen Bezeugung des Auferstandenen" (18).

Peter Lampe betrachtet "die urchristliche Rede von der ,Neuschöpfung des Menschen’ im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie" (21-32); er kritisiert die theologische Rede von der "Wirklichkeit Gottes" und fordert, in die Diskussion mit dem von Wissenssoziologie und Hirnforschung erarbeiteten Realitätsbegriff einzutreten. Der Konstruktivismus zeige, dass die Wirklichkeit "ein Konstrukt des Gehirns" ist; "objektiv" sei die Realität nur insofern, "als sie eine intersubjektive, gesellschaftliche Realität darstellt" (23). L. überträgt dies dann auf Aussagen wie 2Kor 5,17 und sieht dort ein Element der "kognitiven Konstruktion": Im Taufritus sei das Todes- und Auferstehungsschicksal Christi "als vergegenwärtigt vorgestellt" worden (27); zumindest Enthusiasten wie die Korinther hätten das Wiederauftauchen aus dem Taufwasser als Auferstehung mit Christus erfahren, was Paulus dann in Röm 6,4 modifiziere (28; auf die seit langem bestehende Diskussion hierzu geht L. nicht ein). Wichtig sei auch das dann in der Eucharistie geschehende Wiederholen der Erfahrungen; aus 1Kor 12 und 14 ergebe sich: "Die Gemeindeglieder und -leiter bestätigen sich ihr Neugeschaffen-Sein gegenseitig" (29). Auch der konstruktivistisch denkende Theologe hört nach L. nicht auf, "sonntags in die Kirche zu gehen und ehrlich zu glauben, wenn dies in seinem Leben sich als plausibel erwiesen hat" (31); jedenfalls müsse sich die Theologie auf dieses Denken einlassen, wenn sie "in der säkularisierten Gesellschaft kommunikabel" bleiben wolle (32). Die textbezogenen Bemerkungen fallen eher knapp aus, so dass der Erkenntnisgewinn für die Exegese nicht recht zu erkennen ist.

Einen lesenswerten Beitrag zum Verhältnis von "Individualitätstheorie und Exegese" liefert am Beispiel des Röm Dierk Starnitzke (33-56). Er zeigt anhand eines Durchgangs durch den ganzen Text, dass das Konzept der Individualität ein Leitgedanke der paulinischen Argumentation ist, insofern "bekannte Denkmuster ... selbstreflexiv auf das Individuum" bezogen werden (39; auffallend sind ja die zahlreichen in der 1.Pers. Sing. formulierten Aussagen im Röm). S. meint, vom Röm her könne man zu einem für die Gegenwart relevanten theologisch fundierten Verständnis der Individualität gelangen (55).

Holger Tiedemann (57-76) untersucht am Beispiel des in 1Kor 6,9 begegnenden Begriffs arsenokoitai das Verhältnis der "genealogischen Geschichtsschreibung" Michel Foucaults zur Paulusexegese. Es komme darauf an, nach wie vor vorhandene "Überbietungsmodelle" zu überwinden, die insbesondere im Zusammenhang der Ethik von einer Überlegenheit des paulinischen gegenüber dem übrigen zeitgenössischen Denken sprechen. Es zeige sich, dass die paulinische Konzeption der Sexualethik "unwiederbringlich vergangen" ist, dass die historischen Texte aber gleichwohl "Denk- und Erfahrungsangebote" enthalten, "die für die Gegenwart durchaus attraktiv und in neuer Funktionalität reformulierbar sein können" (74). Inwieweit das beschriebene Vorgehen in methodischer Hinsicht als neu zu gelten hat, wird nicht ganz deutlich.

Brian K. Blount (77-97) stellt das Konzept einer "cultural exegesis" vor, demzufolge die Ausleger den Textsinn nicht finden, sondern machen; es bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Text und "the reader’s contemporary context" (78). B. erwähnt die Nähe zu Bultmanns Theorie des Vorverständnisses, doch habe Bultmann die Bedeutung des Interpretationsprozesses noch unterschätzt; jetzt gelte: "MY meaning has displaced THE meaning" (86). Nicht ganz deutlich wird (mir), inwiefern unter diesen Voraussetzungen eine Kommunikation über die Ergebnisse der Exegese stattfinden kann; B. verweist auf die Gemeinschaft bzw. Gemeinde (community), aber ein solcher Bezug könnte ja auch die Interpretationsmöglichkeiten einschränkende Folgen haben.

A. K. M. Adam (99-110) fragt nach der Bedeutung des Dekonstruktivismus (deconstruction) Jacques Derridas für die Exegese und kommt zu einem vorsichtig skeptischen Ergebnis; sinnvoll sei es jedenfalls, von Derrida her die Grenzen der Interpretation zu erkennen.

Stefan Alkier (111-133) bietet "Skizzen eines semiotischen Lektüreverfahrens" am Beispiel von Apg 12, dessen Charakter als Text er hervorheben will (112), und zwar insbesondere unter der Annahme, dass die im Text gesetzte Welt eine andere ist als die uns vertraute (118). A. will zeigen, wie die semiotische Exegese nicht nach dem "hinter" den Texten Liegenden fragt, sondern danach, "wie die Texte ihre jeweilige Welt konstruieren" (131).

Ute E. Eisen (135-153) stellt am Beispiel des Mk das Verhältnis von Literary Criticism und Evangelienauslegung vor, wobei sie sich vor allem der "Erzählstimme" des Evangelisten zuwendet und dabei eine Fülle interessanter Beobachtungen zutage fördert. Ausdrücklich lehnt sie es ab, einen gänzlichen Verzicht auf die Frage nach den historischen Entstehungsbedingungen des Textes zu fordern (153).

Werner Kahl (155-176) setzt dagegen bei der (geläufigen) Kritik der historisch-kritischen Methode ein und vergleicht dann entsprechend der strukturalistischen Methode sechs Erzählungen von der "Heilung des Sohnes einer gesellschaftlichen Autoritätsperson über eine räumlich erhebliche Distanz hinweg" (157) miteinander. Der Vergleich von Lk 7,1-10 parr mit drei Fassungen einer von Chanina ben Dossa berichtenden Wundererzählung führt zu der Vermutung, es handele sich um verschiedene Versionen derselben Erzählung (174); nur sei im christlichen Milieu Jesus der eigentliche Wundertäter, während Chanina "als numinoser Bittsteller Gottes" erscheine (175).

Reinhold Zwick (177-207) trägt am Beispiel von Mk 5,1-20 seine am Filmblick orientierte Exegese vor (vgl. sein Buch Montage im Markusevangelium, 1989); diese Art der Lektüre lässt in der Tat bemerkenswerte Perspektiven erkennen, doch sehe ich nicht, wo die exegetischen Schwierigkeiten des Textes auf diesem Wege besser als sonst gelöst werden. Ralph Brucker (211-236) untersucht am Beispiel des Gal das Verhältnis von Rhetorik und Exegese; der Brief sei dem rhetorischen Genus deliberativum und nicht der Gerichtsrede zuzuordnen, woraus sich ergebe, dass die Conclusio schon in 4,12 beginne, während die eigentliche Beweisführung in 3,1-4,11 stattfinde. Innerhalb des Schlussteils habe der ethische Abschnitt 5,13-6,10 die Funktion eines Exkurses.

Nach dem Verhältnis von Archäologie und neutestamentlicher Exegese fragen Peter Pilhofer und Thomas Witulski. P. stellt einige grundsätzliche Aspekte dar, ohne auf inhaltliche Ergebnisse einzugehen (237-245), W. will am "praktischen Beispiel" mit Hilfe von aus der archäologischen Forschung gewonnenen Argumenten zeigen, dass Paulus sich in Gal 4,8-20 auf den Kaiserkult bezieht, weshalb es "gut denkbar" sei, dass der Abschnitt und möglicherweise der Brief im Ganzen an die Gemeinde im pisidischen Antiochia gerichtet ist (245-255).

Jürgen Conrady und François Vouga (257-270) legen einen "Werkstattbericht" über die Zusammenarbeit zwischen einem Arzt und einem Theologen bei der Auslegung der mk Exorzismen vor. Mit W. Schmithals wollen sie diese Erzählungen auf einen Erzähler (Markus) statt auf einzelne Traditionsstücke zurückführen; sie dienten dazu, die Nähe der Gottesherrschaft als Befreiung des Menschen zu verkündigen, und dabei sei eine seelische Krankheit vorausgesetzt, unter der auch gesunde Menschen leiden. Die "Diagnosen" der drei bei Mk erzählten Fälle lassen unterschiedliche medizinische Phänomene erkennen; bei der Heilung gehe es, anders als bei Philostrat und Josephus, nicht um die Wiederherstellung von "Normalität", sondern um den Aufweis einer auch dem gesunden Menschen eigenen inneren Spaltung. Insofern bestehe eine starke Nähe zu Röm 7 und zu Gal 3,10, und es erweise sich, dass Kierkegaard ("Die Krankheit zum Tode") den sachgemäßen Kommentar biete.

Der abschließende Beitrag von Tina Pippin (271-280) befasst sich mit der Bedeutung verschiedener feministischer Theorien für die Exegese; sie stellt unterschiedliche Positionen aus dem letzten Jahrzehnt vor, darunter die "womanist" Textlektüre, die sich speziell auf die "African American interpretive tradition" bezieht (274). Klare Ergebnisse ließen sich bei dem gegenwärtigen Diskussionsstand noch nicht erkennen (276).

Jeder der Beiträge enthält ein Literaturverzeichnis; der Band schließt mit Stellen-, Personen- und Sachregister, und insofern lässt sich gut mit ihm arbeiten. Ein Problem liegt meines Erachtens darin, dass der Dialog mit den "herkömmlichen" exegetischen Methoden und deren Ergebnissen im Einzelfall kaum geführt wird, so dass der möglicherweise vorhandene Fortschritt nicht immer sichtbar wird. Ansätze zu einer Diskussion untereinander sind, auch bei miteinander verwandten Themen, gar nicht erkennbar, so dass der Anspruch, einen "handbuchartigen Überblick" zu geben, kaum eingelöst ist. Wohl aber gibt der Band einen interessanten Einblick in das gegenwärtig in der Exegese für möglich Gehaltene und Praktizierte.