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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

837–838

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Keller, Sonja [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 184 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-05138-0.

Rezensent:

Albrecht Grözinger

Der von Sonja Keller, Juniorprofessorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg, herausgegebene Sammelband geht zurück auf eine Fachtagung an der Universität Hamburg im De­zember 2016 zum Thema »Prophetische Predigt – parteiische Kirche? Positionalität und Öffentlichkeit homiletischer Lebensweltbezüge«. Um die Bedeutung der dort vorgetragenen Positionen würdigen zu können, muss man die Vorgeschichte der verhandelten Thematik in den Blick nehmen. Bezeichnenderweise taucht der Terminus der Prophetischen Predigt, der die Veranstaltung ankündigte, im Buchtitel nicht mehr auf. Prophetische Predigt steht für die homiletische Wahrnehmung und Diskussion der zu verhandelnden homiletischen Thematik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im deutschsprachigen Raum. Dabei wurden die beiden Be­griffspaare Prophetische Predigt und Politische Predigt beinahe synonym gebraucht. Die ganze Debatte stand unter dem großen Schatten der Erfahrung der großen totalitären Systeme des 20. Jh.s in Form von Faschismus und Stalinismus. Prophetische resp. Politische Predigt war die heroische Tat der Kirche als Einspruch, der nicht zuletzt auch ins Märtyrertum führen konnte. Die praktisch-theologischen Veröffentlichungen waren vom Pathos dieser Erfahrung getragen und geprägt. Dabei mutet es aus der Rückschau beinahe schon skurril an, wie dieses Pathos auch noch zu einer Zeit gepflegt wurde, in der man sich längst schon in einer demokra-tisch und pluralistisch verfassten Gesellschaft vorfand.
Es ist bezeichnend, dass weder im Titel noch im Untertitel des hier zu besprechenden Sammelbandes die Pathosformeln dieser vorgängigen Diskussion auftauchen. Dies signalisiert den Wandel in der Wahrnehmung und in der diskursiven Erörterung des Themas. Alle Beiträge arbeiten sich explizit oder implizit an den Begriffen von Pluralität und Individualisierung ab – Begriffshorizonte, die der vorgängigen Diskussion so fremd wie nur etwas waren.
Der einleitende Beitrag von Reiner Anselm zeigt, dass man sich gerade im Raum einer pluralistischen Gesellschaft nie auf weltanschaulich neutralem Boden befindet. Diesen Boden gibt es schlicht nicht. Alle Wahrnehmungen von und Bezugnahmen auf Problemhorizonte geschehen immer aus einer bestimmten Perspektive heraus. Anselm plädiert dafür, die reformatorische Perspektive für die »Pflege des Verbindenden des politischen Streites« (19) starkzumachen angesichts der zentrifugalen Kräfte einer vom Populismus in die Zange genommenen pluralistischen Gesellschaft. Thomas Schlag zeigt in seiner Analyse von Bischofspredigten aus dem Herbst 2016, dass die kirchenleitenden Personen – wie gelungen auch immer – gerade dies versuchen.
Es ist kennzeichnend für die gegenwärtige Diskussion, dass sie– gerade im Gegensatz zur vorgängigen heroischen Phase, die beinahe nur die Inhalte der Predigt thematisierte – an den Fragen der konkreten Gestaltung interessiert ist. Kristin Merle zeigt, dass Pluralität auch in der Predigt nicht nur einfach da ist und sich reproduziert, sondern dass Pluralismus immer wieder aufs Neue konkrete Gestalt und Form finden muss. Der darauffolgende bischöfliche Beitrag von Gerhard Ulrich unterstreicht diesen Tatbestand aus der besonderen Wahrnehmung einer kirchenleitenden Perspektive. In den sich anschließenden Beiträgen von Henk de Roest aus den Niederlanden und von Ruth Conrad wird – auch das ist neu– auf die Bedeutung der Gemeinde für das homiletische Ge­schehen verwiesen. Eher wie ein Ritardando mutet dann der Beitrag von Hans-Martin Gutmann an zum Thema Wie geht das parteiisch predigen? Aber gerade dieser Beitrag zeigt, dass auch die Pathosformeln der heroischen Debatte für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden können. Jan Hermelink, Uta Pohl-Patalong und Sonja Keller zeigen, dass das homiletische Geschehen Parteiischer Predigt nur als eine Wechselwirkung zwischen Intention und Rezeption begriffen werden kann, das inszenatorisch gestaltet werden muss. Drei eher dokumentarisch gehaltene Beiträge zur protestantischen Freiheit (Laura Schmidt) und zum südafrikanischen Kairos-Dokument aus den Jahren 1985/86 (Christel Weber) sowie ein behutsamer Rückblick auf die Tagung durch Ursula Roth runden den Sammelband ab.
Der Rezensent hat sich in der Vergangenheit recht kritisch zur Debatte um die Parteiische resp. Politische Predigt geäußert. Umso erfreuter nehme ich den sich mit diesem Sammelband (und natürlich auch weiteren Publikationen zu dieser Thematik in der näheren Gegenwart) anzeigenden Paradigmenwechsel wahr. Zum einen verläuft die Diskussion merklich ohne das erhöhte heroische Pa­thos ab, was der Differenziertheit des Diskurses nur nützen kann. Die Kirche wird nicht mehr länger als wahrheitsgesättigte Gegen welt zur Umwelt, sondern als zivilgesellschaftliche Agentin ne-ben anderen gezeichnet. Und schließlich, und das ist für mich die er­freulichste Wendung, wird die Gemeinde als handelnde Größe wahrgenommen. Sie ist nicht mehr länger Adressat einer Botschaft, die heroisch und erratisch von der Kanzel gesendet wird. Sondern die Predigt, und gerade auch die parteiische und politische Predigt, wird verstanden als empowerment zu eigenständigem Denken und Engagement. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die deutschsprachige homiletische Diskussion um die Parteiische resp. Politische Predigt ist in unserer pluralistischen Gegenwart angekommen.