Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

833–834

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bittner, Ulrike

Titel/Untertitel:

»Und wenn sich die Lebenssituation ändert, ist das o.k.«. Eine Untersuchung der evangelischen Kirche als Gemeinschaft unter den Bedingungen postmoderner Mobilität.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 311 S. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 88. Kart. EUR 70,00. ISBN 978-3-525-62438-8.

Rezensent:

Gerald Kretzschmar

Wie können Menschen unter den Bedingungen einer modernen, durch hohe Mobilitätsanforderungen geprägten Gesellschaft An­teil am kirchlichen Leben haben? Die große Richtung, die Ulrike Bittners Studie als Antwortvorschlag auf diese Frage einschlägt, mag überraschen, trifft aber einen sehr wahren Kern: Nicht zuletzt gemeinschaftsförmige Veranstaltungsangebote bergen, unter ge­wissen Umständen, die Chance, gerade für mobile Menschen ein kirchliches Teilnahmeverhalten zu pflegen, das deren Lebensbedingungen entspricht.
Teil A der Studie befasst sich mit der Gemeinschaftsgestalt der Kirche. Hier zeichnet Kapitel I (33–100) wesentliche Konturen von Mobilität in der gegenwärtigen Gesellschaft, skizziert auf der Basis des Postmodernetheorems Strukturen moderngesellschaftlicher Lebensführung, entfaltet den Begriff der Gemeinschaft in soziologischer Perspektive, um schließlich Gemeinschaftshandeln als gesellschaftliche Praxis zu beschreiben. Kapitel II (101–175) reflektiert die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive. Kapitel III (176–208) beendet Teil A, indem hier das soziologisch-phänomenologische Lebenswelttheorem aufgerufen und konzeptionell auf eine als Lebenswelt verstandene Gemeinde bezogen wird.
Teil B wendet sich der Praxis lebensweltlicher Kommunikation unter den Bedingungen von Mobilität zu. Illustrierende und auch praxisorientierende Referenzgröße ist die Gemeinde »Berlinprojekt«. Kapitel IV (211–224) beschreibt die individuelle Wahr-nehmung dieser Gemeinde durch B., wobei sie vor allem zu plausibilisieren versucht, warum sie diese Gemeinde als geeignetes Illus-trationsfeld für die Möglichkeit der Kompatibilität von gemeind-lichen Angeboten und modernen mobilen Lebensformen betrach tet. Kapitel V (225–253) wendet sich dem Gottesdienst im Sinne einer als Praxis verstandenen lebensweltlichen Kommunikation zu. Die Predigt, das Abendmahl und gesprächsförmige Interak-tionsformen werden hier daraufhin befragt, unter welchen Bedingungen sie in der Lage sein können, auf die Bedürfnisse von Menschen zu reagieren, deren Leben von postmodernen, mobilen Le­bensformen charakterisiert ist. Die Gemeinde Berlinprojekt dient als Illustration einer in dieser Hinsicht gelungenen Praxis. Kapitel VI (254–284) befasst sich mit der Frage, wie es möglich ist, mit mobilen Menschen ins Gespräch zu kommen. Ein Vergleich zwischen medial vermittelter und leibhafter Kommunikation zeigt hier zum Beispiel, dass für die Personen, die B. für die vorliegende Studie interviewt hat, die Kontaktaufnahme zum Berlinprojekt nahezu ausschließlich über leibhafte Kommunikation, nicht aber über me­dial vermittelte erfolgte. Außerdem wird in diesem Kapitel bedacht, inwiefern die soziale Formation der Kleingruppe bzw. der Event-Gemeinschaft geeignet ist, mobilen Menschen einen Zu­gang zu einer Gemeinde zu eröffnen. Ein Epilog (285–288) beendet die Studie.
Leider trägt die Studie zu einem konstruktiven praktisch-theologischen Weiterdenken der vielversprechenden gemeinschaftstheoretischen Perspektive nichts bei. Dazu drei Argumente:
Erstens verfährt die Studie gemeinschaftstheoretisch verkürzend, indem sie Gemeinschaft und Gesellschaft kontrastierend gegenüberstellt. Schon Ferdinand Tönnies relativierte eine solch strikte Polarisierung. Spätestens aber die aktuelle soziologische Ge­meinschaftstheorie begreift die soziale Praxis von Menschen als stets durch ein Ineinander von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekten geprägt. Niemand agiert ausschließlich gesellschafts- oder gemeinschaftsförmig. Indem die Studie diesen Sachverhalt nicht hinreichend reflektiert, entfaltet sie einen ›soziologisch‹ engen Gemeinschaftsbegriff, der Gemeinschaft über Affekte, Wir-Gefühle, Traditionen und geteilte Erinnerungen definiert (vgl. 87 f.). Gerade wer in modernen Gesellschaften und deren kirchlichen Organisationen Gemeinschaftsphänomene wahrnehmen möchte, muss die faktische Verwobenheit von gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Aspekten im sozialen Miteinander der Menschen wahrnehmen. Es wird dann schnell erkennbar, dass es je nachdem, in welcher Intensität in gemeinschaftlichen Formationen gesellschaftsförmige Anteile vorhanden sind, die Gemeinschaft nicht gibt, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Formen von Vergemeinschaftung. Die faktisch gegebene und auch theologisch begründbare Vielfalt an Formen von Vergemeinschaftung in der Kirche wird von der Studie nicht wahrgenommen.
Die Exklusivität des Gemeinschaftsverständnisses der Studie wird – zweitens – unterstrichen, indem Gemeinde als Lebenswelt konzipiert wird (vgl. 176–208). Das phänomenologische Lebensweltkonzept ist untrennbar an die Kategorie des Alltags gebunden. Es zielt auf ein komplexes und vielgestaltiges Sinn- und Praxisgefüge. Die Lebenswelt kann nie auf einen einzigen Bereich der individuellen Lebensführung oder des gesellschaftlichen Lebens reduziert werden. Passiert das doch, dann mündet das in die Vorstellung, das gesamte Leben könne in diesem einen Bereich stattfinden. Wird Gemeinde – wie in der Studie der Fall – als Lebenswelt konzipiert, dann drücken sich darin ekklesiologische Totalitätsansprüche in Bezug auf eine kirchliche Verfügbarkeit des Lebens von Individuen aus.
Drittens ist die Wahl der Gemeinde Berlinprojekt als illustrierendes Fallbeispiel für eine gelingende gemeindliche Praxis unter den Bedingungen mobiler Lebensformen mehr als problematisch. Bei dem Berlinprojekt handelt es sich um eine neuere freikirchliche Gemeindegründung mit evangelikal fundamentalistischem Hintergrund. Das Berlinprojekt firmiert unter dem Dach des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, zu dessen Grundsätzen die Ablehnung von Frauen als Pastorinnen oder Pfarrerinnen, ein Verständnis von Homosexualität als Krankheit, sehr hohe Anforderungen in Bezug auf Teilnahme und Engagement in der Gemeinde sowie sehr hochschwellige Mitgliedschaftsbedingungen zählen. All das nennt B. an keiner Stelle. Für all diejenigen, deren Frömmigkeit nicht evangelikal fundamentalistisch geprägt ist, dürfte sich der Kontakt zu den Veranstaltungen des Berlinprojekts, das die Studie so nachdrücklich als modern, niedrigschwellig und liberal inszeniert, als hochproblematisch erweisen.
Am Ende der Lektüre steht nicht wenig Verwunderung: Kirche reagiert auf moderne mobile Lebensformen und -umstände von Menschen, indem sie sich auf ein vermeintlich eindeutig definierbares Verständnis von Gemeinschaft fokussiert, indem sie Totalitätsansprüche in Bezug auf die soziale Einbindung von Individuen in das Leben einer Gemeinde intendiert und zu guter Letzt als Modell kirchlicher Praxis für all das die Missionsstrategie einer evangelikal fundamentalistischen Gemeinde empfiehlt? Diese Kette ist für sich genommen zwar schlüssig. Für die praxistheoretische Reflexion und die Gestaltung des kirchlichen Lebens in modernen Gesellschaften wie in Deutschland oder der Schweiz brauchbar ist dieser Zugang dagegen nicht.