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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

831–832

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nida-Rümelin, Julian

Titel/Untertitel:

Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration.

Verlag:

Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2017. 248 S. Geb. EUR 20,00. ISBN 978-3-89684-195-7.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

»Wenn dieser Essay die eine oder andere ideologische Voreingenommenheit erschüttern und das rationale Fundament einer ethischen und politischen Beurteilung der Migration stärken sollte, wäre sein Zweck erfüllt.« Mit dieser Hoffnung schließt Julian Nida-Rümelin seine Abhandlung. Wer sie gelesen hat, wird ihm in Gedanken antworten: »Sie haben Ihr Ziel mit Bravour erreicht.«
Migration ist so alt wie die Menschheit, doch hat sie ihre Ruhe- und Hochzeiten. Aus leisem Hintergrund-Ostinato wird manchmal ein Crescendo, das alle anderen Motive übertönt und den Zeitgenossen die Frage aufdrängt: Was tun? Die Suche nach Antworten ist schwierig, weil sich faktische, philosophische, ethische, kulturelle, religiöse, ökonomische, rechtliche und politische Gesichtspunkte und Argumente ineinander verschlingen, aber nur schwer verrechnet und saldiert werden können. Obendrein lassen theoretische Vorfestlegungen oder subjektive Vorverständnisse oft dem einen selbstverständlich erscheinen, was dem anderen abwegig vorkommt. Das Resultat sind nicht selten Debatten, die Tiefgang durch Schärfe ersetzen, Praktikabilität durch Dogmatik und Handlungsorientierung durch Rechtbehaltenwollen.
Der Vf. legt im ersten Kapitel seiner Schrift seine andernorts entwickelte, »kohärentistische« Herangehensweise dar. Er grenzt sie ab von utilitaristischen, kontraktualistischen und libertären Konzeptionen (internationaler) Gerechtigkeit: Man solle die Komplexität der mit Migration zusammenhängenden Sachverhalte nicht durch das Prisma eines einzigen Prinzips betrachten, sondern für die Vielfalt und Differenziertheit »guter, praktischer« normativer Gründe offen sein und auf die ethische Urteilskraft vertrauen, die wir alle in tausend Alltagsfragen anspannen und für die viele Motive und Beweggründe legitim und oft zugleich gegeben sind, von der Wahrung eigener Interessen über die Erfüllung von Pflichten der Allgemeinheit gegenüber bis zum Altruismus. Der Jurist fühlt sich an das topische Denken und Argumentieren im Geiste Theodor Viehwegs erinnert. Jedenfalls, so der Vf., entspricht die kohärentistische Herangehensweise »unserer lebensweltlichen Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens«.
Wenn gute Gründe kollidieren oder sich »unsere moralischen In­tuitionen nicht mit bewährten Prinzipien in Einklang bringen lassen«, dann »müssen wir gewichten, einen Vorrang bestimmen, vielleicht auch bestimmte Prinzipien, die wir für selbstverständlich hielten, in Frage stellen«. Das Ziel dabei: eine möglichst kohärente Urteilspraxis, die über das bloße Meinen und Präferieren hinausführe zu der Überzeugung, was im gegebenen Fall »tatsächlich, bei Ab­wägung des Pro und Contra, für eine bestimmte Handlung spricht«.
Im II. Kapitel wird das dem Essay zugrundeliegende Verständnis von menschlicher Verantwortlichkeit geklärt. Sie sei »an die Fähigkeit, Gründe für das eigene Handeln anzugeben, gekoppelt«. Verantwortung sei nichts anderes als »die Fähigkeit, Gründe abzuwägen, sich von Gründen affizieren zu lassen und Gründe zur Rechtfertigung des eigenen Handelns geltend zu machen«. Auch Kollektive wie Institutionen und Staaten seien in diesem Sinne verantwortungsfähig und verantwortlich. Darum lasse sich globale politische Verantwortung weltweit institutionalisieren und einfordern.
Das III. Kapitel gibt einen Überblick über »Kommunitarismus versus Kosmopolitismus«, kritisiert beider Überspitzungen und Vereinseitigungen, und kommt zu dem Befund, es gebe zwischen den beiden eigentlich keinen Konflikt, solange beide gute Gründe der Alltagsvernunft und -praxis beitragen zu der Art und Weise, wie eine humane Gesellschaft organisiert ist. Es gebe eine strukturelle Rationalität, die Handlungen rechtfertige »im Hinblick auf eine wünschenswerte Struktur«, und sie schöpfe aus kommunitären wie aus kosmopolitischen Quellen. Eine so verstandene zeitgenössische Philosophie strebe nicht nach rationalistischer oder utopistischer splendid isolation »außerhalb aller kultureller Praxis«, sondern »akzeptiert die Bindungen und Projekte, die eine humane (Welt-)Gesellschaft ausmachen, und integriert sie in eine kosmopolitische Perspektive«.
Auf diesen Grundlagen entwickelt der Vf., gestützt auch auf einen faktenreichen Anmerkungsapparat, eine überzeugende Analyse, was die internationale Gerechtigkeit (IV. Kapitel) mit Blick auf die zu Recht und einleuchtend unterschiedene Armutsmigration (V. Kapitel), Kriegs- und Bürgerkriegsmigration (VI. Kapitel) und Wirtschaftsmigration (VII. Kapitel) verlangt. Das ist oft so erfrischend wie erhellend konkret, und es läuft auf eine Grundrevision der Weltwirtschafts- und der internationalen politischen Beziehungen hinaus. Sie wäre für die beati possidentes alles andere als gemütlich, würde aber das recht bestimmte Los aller Nationen verbessern. Als ethisch geboten wird »nur« gefordert, was tatsächlich politisch, ökonomisch und kulturell möglich und zumutbar ist – »nur« eben auch nicht weniger. Dafür werden im VIII. Kapitel zu­sammenfassend »Sieben ethische Postulate für die Migrationspolitik« hergeleitet.
Aus dem bis dahin Gesagten folgt schlüssig und überzeugend das IX. Kapitel mit dem Titel »Legitimation von Grenzen«. Es führt zu der Erkenntnis: »Ohne Grenzen gibt es keine individuelle, kollektive, staatliche Selbstbestimmung und keine individuelle, kollektive oder staatliche Verantwortung. Ohne Grenzen werden die Lebensformen amorph, sie haben dann keine erkennbare Gestalt mehr, wir wissen dann nicht, wer welcher Akteur ist, wer für was verantwortlich ist, welche Normen und Werte die jeweiligen Praktiken repräsentieren.«
»Das Chaos«, schrieb Gertrud von le Fort, »ist eine fürchterliche Parodie auf die Gleichheit aller! Im Chaos hat man kein eigenes Antlitz«. In den meisten Debatten über Migration schwingt die Frage mit, ob und welche Wege ins Chaos führen. »Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt« (X. Kapitel des hier besprochenen Bandes) werden wir nur vorankommen, wenn wir das Zumutbare tun und das Unzumutbare verhüten. »Über Grenzen denken« hilft dabei sehr.