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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

820–822

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Moustakas, Ulrich

Titel/Untertitel:

Theologie im Kontext von Wissenschaftstheorie und Hermeneutik.

Verlag:

Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2017. 308 S. = THEOS – Studienreihe Theologische Forschungsergebnisse, 134. Kart. EUR 98,80. ISBN 978-3-8300-9372-5.

Rezensent:

Sven Grosse

Ulrich Moustakas, sowohl Doktor der Mathematik als auch habilitierter Theologe, Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Tübingen, hat zu der grundlegenden und aktuellen Frage, ob, warum und in welcher Weise Theologie eine Wissenschaft sei, mit diesem Werk eine erhellende Untersuchung vorgelegt, welche in einem weiten Maße die Erkundigungen von Thomas S. Kuhn und Hans Georg Gadamer über das Wesen von Wissenschaft einbezieht.
Theologie fasst er dabei »als eine Weise der Wirklichkeitsdeutung, die sie den Deutungsvollzügen der Geisteswissenschaften vergleichbar macht« (72). Näher bestimmt ist diese Wirklichkeitsdeutung eine Sinndeutung. Die Wirklichkeit ist Schöpfung, die Kreaturen werden als »Schöpfungsgemeinschaft« betrachtet (73). Die Theologie legt »die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit als Schöpfung in Relation zu ihrem Schöpfer« aus. »Und zwar tut sie das im Lichte der Geschichte Jesu Christi [wobei M. die Kreuzigung und Auferstehung Christi besonders hervorhebt], in der sie die einzigartige Selbstbekundung Gottes vernimmt und damit das entscheidende Wort zur Erhellung jener Relation von Schöpfer und Ge­schöpf hört.« (75, vgl. 292; Hervorhebungen M.)
In Blick auf den Wissenschaftscharakter der Theologie geht M. die wichtigsten Beiträge dazu in den letzten 200 Jahren durch: den Friedrich Schleiermachers, die Anfang der 1930er Jahre zwischen Heinrich Scholz und Karl Barth geführte Diskussion und den Beitrag, den Wolfhart Pannenberg mit seinem Werk »Wissenschaftstheorie und Theologie« von 1973 gemacht hat (17–32.82–93). M. folgt dabei nicht Pannenbergs Option, in der Theologie – damit einem bestimmten, vor allem von Karl Popper vertretenen Modell von Naturwissenschaft folgend – lediglich Hypothesen aufzustellen, die man nach bestimmten Kriterien dann als bewährte Hypothesen betrachten dürfe. Er stellt fest, dass dann Dogmatik »als theologische Disziplin keine Wissenschaft und umgekehrt als Wissenschaft keine Theologie« wäre, »d. h. sie ist keine theologische Wissenschaft« (30, Hervorhebungen M.).
Demgegenüber nimmt M., der sich aber auch oft auf Gerhard Ebeling beruft, ausdrücklich das theologische Anliegen Karl Barths auf, sich nach dem Wort Gottes zu orientieren, darin Gewissheit zu haben und sich nicht einem allgemeinen Wissenschaftsbegriff zu unterstellen, der außerhalb der Theologie konstruiert worden ist (86). Er bestimmt dann seinen Gedankenweg aber so:
»Freilich macht Barth es sich (und seinen Kritikern) entschieden zu leicht mit der Auskunft, die Theologie werde eben darin zur Wissenschaft, dass sie die Überprüfung des Inhaltes der ihr eigentümlichen Rede von Gott in sachgemäßer Ausrichtung an dem Wort Gottes als dem einen Kriterium unternimmt; denn nicht das ›dass‹ allein, sondern das ›wie‹ der Überprüfung entscheidet offenbar über die Wissenschaftlichkeit des Verfahrens. Aus diesem Grund ist der Hinweis von Bedeutung, dass es möglich ist, Barths grundsätzliches Anliegen – soweit es hier aufgenommen wurde – in einer wissenschaftstheoretisch und hermeneutischen ernstzunehmenden Form zu vertreten.«
M. meint, dass »eine Überfremdung der theologischen Arbeit durch sachfremde Prinzipien« – wie sie Barth befürchtete – dabei vermieden werden könne (86).
M. führt dieses Vorhaben durch, indem er, wie angedeutet, die Theologie den Geisteswissenschaften zuordnet oder sie jedenfalls als etwas ihnen Vergleichbares betrachtet (wie er dies genau sieht, bleibt anscheinend ungeklärt), den eigentümlichen Wissenschafts-charakter der Geisteswissenschaften herausarbeitet und aufweist, dass der Wissenschaftscharakter der Naturwissenschaften durchaus Ähnlichkeiten zu jenem aufzuweisen hat. Die Naturwissenschaften sind nicht in einem höheren Maße Wissenschaft als die Geisteswissenschaften. Für das Erste zieht M. Hans Georg Gadamers Hermeneutik heran, d. h. er fokussiert sich auf die Philologie als die Wissenschaft, die im Verständnis von Texten besteht. Für das Zweite wendet er sich der Wissenschaftsphilosophie von Thomas S. Kuhn zu. In sehr detailreichen Ausführungen stellt er fest, dass beide Positionen, die Gadamers und die Kuhns, konvergieren (eine Beobachtung, die übrigens auch Hans Poser schon gemacht hat: Poser, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2001, 136–156.220–237). Kurzgefasst besteht Kuhns Einsicht darin, dass sich Naturwissenschaft von einem Paradigma zu einem anderen weiterbewegt; diese Veränderung ist ein Umbruch, eine Revolu-tion; es gibt kein umfassendes und bleibendes Paradigma in den Naturwissenschaften. Darüber hinaus erkennt auch der von den Naturwissenschaften herkommende Kuhn, dass die Geisteswissenschaften Wissenschaft nicht nach Art der Naturwissenschaften sind: »Wenn die Geschichtsschreibung etwas erklärt, so nicht deshalb, weil ihre Darstellungen unter allgemeine Gesetze fielen [wie die Naturwissenschaften sie suchen], sondern weil der Leser, der sagt ›Jetzt weiß ich, was geschehen ist‹, damit sagt ›Jetzt gibt es einen Sinn; jetzt verstehe ich; was bisher für mich eine bloße Aufzählung von Tatsachen war, bildet jetzt eine erkennbare Struktur.‹« (49 f.; übers. Zitat von Thomas S. Kuhn, The Relations between the History and the Philosophy of Science, in: The Essential Tension. Selected Studies in Scientific Tradition and Change, Chicago 1977, 17 f.) Gadamer weist bekanntlich die bleibende Bindung desje-nigen, der einen Text verstehen will, an ein Vorverständnis, ein Vor-Urteil, auf, das durch Überlieferung dem Verstehenden mitgegeben wurde; das Vor-Urteil verhindert nicht das Verständnis, sondern ermöglicht es vielmehr erst; dabei ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Verstehende seine Auffassung von dem Zu-Verstehenden gegenüber dem Vor-Urteil verändert.
Damit wird die Grenze sichtbar, die auch Kuhns und Gadamers Revisionen eines abstrakten Objektivismus in der Wissenschaft nicht überschreiten. Ihre Revisionen führen nicht so weit, dass sie in eine postmoderne Beliebigkeit gegenüber der Wahrheit gelangen. M. führt hier Richard Rorty als den Fall einer postmodernen Rezeption von Kuhn und Gadamer auf, die sich aber nicht zwingend aus deren Überlegungen ergibt und vielmehr von diesen ausdrücklich zurückgewiesen wurde (248–266).
Konsequenzen aus diesen Erkundigungen für die christliche Theologie deutet M. am Schluss seines Buches nur an: Theologie befindet sich in einem »Konflikt der Interpretationen«, in einer vieldeutigen Welt; in »Anbetracht der faktischen Vieldeutigkeit kommt aber der Theologie die Aufgabe zu, im Unterschied zu anderen Wirklichkeitsdeutungen zur Sprache zu bringen, wie die Welt im Lichte der Wahrheit aussieht, die uns in Christus mitgeteilt wird« (295).
An dieser Untersuchung ist mehreres bemerkenswert: der Mut, den eigenständigen Charakter der Theologie in ihrer Bindung an das Wort Gottes, das selbst eine geschichtliche Tat ist (Christi Tod und Auferstehung), zu vertreten, zugleich die Erkenntnis, dass dies in einer In-Beziehung-Setzung mit der vollen Weite der Wissenschaften– Natur- und Geisteswissenschaften – erfolgen muss und erfolgen kann. Die Reflexionen entlang Kuhn und Gadamer weisen – bei allen Unterschieden – Gemeinsamkeiten zwischen Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften – insbesondere der Philologie – und der Theologie auf. Das von M. angegangene Projekt drängt zur Klärung weiterer Fragen: 1) das Ergründen der Gegebenheit, weshalb es überhaupt die Doppelung von Natur- und Geisteswissenschaften gibt, damit das Aufweisen eines übergreifenden Zusammenhanges von Wissenschaft, aus dem sich die Möglichkeit der Naturwissenschaften wie auch der Geisteswissenschaften ergeben und in dem auch der Ort der christlichen Theologie – sowie auch der Philosophie als Metaphysik – einsichtig wird, 2) ein Ergründen des eigentümlichen Wahrheitsanspruches und der Gewissheit der Theologie, in welcher sie inmitten dieses Konflikts der Welt-Interpretationen steht.