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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

814–816

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Seidel, Christian

Titel/Untertitel:

Selbst bestimmen. Eine philosophische Untersuchung personaler Autonomie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XI, 351 S. m. 3 Tab. = Ideen & Argumente. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-047327-8.

Rezensent:

Werner Schüßler

Die Dissertation von Christian Seidel – die Universität, an der er mit dieser Arbeit promoviert wurde, erfährt der Leser im Vorwort seltsamerweise nicht! – beansprucht, das »Rätsel personaler Autonomie« zu lösen; was natürlich ein gewaltiger Anspruch ist, wenn man bedenkt, dass dieses Thema die Philosophie seit der Antike bewegt. In der Einleitung (1–7) wird die Fragestellung der Arbeit kurz skizziert (»was es mit der Autonomie von Personen genauer auf sich hat«) und auch schon eine knappe Zusammenfassung der folgenden drei Teile geboten. In einem ersten Teil (11–63) geht es darum, den Begriff der Autonomie zu schärfen, indem u. a. »vier Blickwinkel auf personale Autonomie« vorgestellt werden (21–30); diese Systematisierung basiert darauf, dass die erst- und drittpersonale Perspektive jeweils aus einem lokalen und einem globalen Gesichtspunkt heraus betrachtet werden können. Sodann wird das »Rätsel personaler Autonomie« erläutert (38–63), das sich S. zufolge aus dem folgenden Trilemma ergibt: »(I) Autonomie ist von der Art eines Selbstverhältnisses. (II) Autonomie ist von der Art eines Weltverhältnisses. (III) Ein Selbstverhältnis ist von ganz anderer Art als ein Weltverhältnis, so dass gilt: Wenn etwas von der Art eines Selbstverhältnisses ist, dann ist es nicht von der Art eines Weltverhältnisses.« (5.40–49.324) Wobei eine Autonomiekonzeption nach S. dieses Trilemma »zufriedenstellend« lösen muss, da man nicht alle drei Ansichten zugleich für wahr halten kann (50). Warum Rätsel? Weil für jede der drei Überzeugungen »auf den ersten Blick recht starke Gründe sprechen« (51).
Im zweiten Teil (67–186) werden drei »Standardstrategien« diskutiert, die jeweils eine der drei »vortheoretischen« Überzeugungen des Trilemmas leugnen: der internalistische, der externalistische und der interaktionalistische Ansatz. Internalistische Ansätze geben die These (II) auf, externalistische die These (I), interaktionalistische Ansätze leugnen die These (III).
Autonomie als reines Selbstverhältnis wird anhand von Harry G. Frankfurt, Gary Watson und Michael E. Bratman erläutert (72–89), und es werden die damit verbundenen grundsätzlichen Schwierigkeiten benannt, die nach S. darin begründet sind, »dass es die Internalistin beim Versuch, die Probleme zu lösen, immer wieder in Richtung externer Bedingungen zieht und es für sie damit immer schwieriger wird, Autonomie als reines Selbstverhältnis zu verstehen« (97). Bei der Darstellung externalistischer Theorien (99–139), die Autonomie als reines Weltverhältnis ansehen, werden verschiedene äußere Bedingungen vorgestellt, die für die personale Autonomie günstig bzw. ungünstig sind; hierzu zählen das soziale Umfeld, der Handlungsspielraum, die Vorgeschichte einer Person, der Gehalt ihrer Entscheidungen oder Lebensweise. Das grundsätzliche Problem des Externalismus besteht S. zufolge darin, dass hier völlig aus dem Blick gerät, »dass Autonomie weniger in einer Konfiguration der äußeren Welt zu bestehen scheint als vielmehr darin, wie man auf die Welt reagiert, wie man sich mit ihr auseinandersetzt und wie man sie gestaltet (Resilienz)« (138). Interaktionalistische Theorien geben den Gegensatz zwischen Selbst- und Weltverhältnis entweder auf oder schwächen ihn zumindest ab. Das heißt, man geht hier davon aus, »dass man für eine angemessene Autonomiekonzeption einfach beides braucht: sowohl Bedingungen, die das Innenleben einer Person charakterisieren, als auch Bedingungen, welche die Welt, die die Person umgibt, be­schreiben« (141). Eine Aufteilung in ein Selbst- und ein Weltverhältnis macht dieser Theorie zufolge keinen Sinn, da beide Aspekte untrennbar ineinander verwoben sind. Personen gestalten also ihre Umwelt immer schon mit, werden aber auch von dieser mitgestaltet. Aber selbst »ausgefeilt interaktionalis-tische Ansätze« scheitern nach S. daran, »dass sie mit der Ablehnung von These (III) des Trilemmas Selbst- und Weltverhältnis auf un­plausible Weise einander angleichen und die offenkundigen Unterschiede zwischen diesen leugnen müssen« (6.185).
Im dritten Teil stellt S. dann seine eigene »Lösung« des genannten Trilemmas dar: eine »normative Konzeption personaler Autonomie« (189–323). In einem ersten Abschnitt diagnostiziert S., dass Autonomie ein »dicker normativer Begriff« sei (189) – wobei er sich hier an Bernard Williams anschließt, der von »thick moral concepts« spricht (195). Was ist damit gemeint? »Offenbar ändern sich also die normativen Beziehungen zu einer Person, wenn diese ihre Autonomie verliert oder gewinnt.« (190) Anders formuliert: Die »Eigenschaft der Autonomie« ist »eine normative Eigenschaft von Personen« (192). Diese These, so S., habe bisher in der Debatte um Autonomie kaum Beachtung gefunden. Näherhin charakterisiert er personale Autonomie dadurch, dass er sie mit »einer bereichspezifischen Form praktischer Autorität« vergleicht: Autonomie besteht darin, »von anderen berechtigterweise verlangen zu können, dass sie ganz bestimmte Handlungen – nämlich Eingriffe in die Entscheidungen oder Lebensweise – unterlassen, weil man (die autonome Person) so handelt und lebt.« (201) Seltsam thetisch klingt die weitere Spezifizierung S.s: »Wenn Autonomie nun eine bestimmte Form praktischer Autorität ist, dann ist der Begriff Autonomie ein Unterbegriff zu Autorität« (222). Ausgehend von dieser Normati-vitätsthese geht es im letzten Abschnitt um die Suche nach Be-dingungen personaler Autonomie (259–323): »Die Bedingungen personaler Autonomie müssen Bedingungen dafür sein, dass ein be­stimmter inhaltsunabhängiger Grund vorliegt, Eingriffe zu un­terlassen.« (259) Diese normativen Bedingungen sieht S. in der Mündigkeit, der Wehrhaftigkeit und der Mitsprache (274–281). Da diese sowohl von internen als auch von externen Faktoren abhingen, folge daraus, »dass es in normativer Hinsicht zwischen Selbst- und Weltverhältnissen keinen grundsätzlichen Unterschied gibt: Beides ist für das Vorliegen von Mündigkeit, Wehrhaftigkeit und Mitsprache gleichermaßen von Belang.« (289 f.) In die erstpersonale Ebene übersetzt geht es dann um Autarkie, Emanzipation und Engagement als Ideal der Selbstbestimmung (300). Allerdings sei die Entwicklung von Kriterien hinsichtlich des Vorliegens dieser Bedingungen und die Diskussion unklarer Fälle einer umfassenderen »Theorie personaler Autonomie« vorbehalten (328).
Die Arbeit besticht durch ihren logischen Aufbau und ihre argumentative Stringenz. Allerdings fällt auf, dass Referenzautorinnen und -autoren so gut wie ausschließlich aus dem anglo-amerikanischen Bereich stammen, die der analytischen Philosophie nahestehen. Namen klassischer Philosophen, wie z. B. Aristoteles, wird man vergeblich suchen. Allein Kant begegnet an einigen wenigen Stellen, aber ohne größere Relevanz. Insgesamt fällt auch auf, dass der Begriff der Freiheit nirgends begegnet. Ein grundsätzliches Problem sehe ich auch darin, dass es sich bei der Frage, ob überhaupt, und wenn ja, wie Selbst- und Weltverhältnis zusammenzudenken sind, primär um ein ontologisches Problem handelt, S.s Lösungsansatz aber auf einer normativen, d. h. letztendlich ethischen Ebene angesiedelt ist. Ob mit einem ethischen Ansatz ein ontologisches Problem zu lösen ist, wage ich zu bezweifeln. Das ontologische Problem von Selbst und Welt wird ja auch innerhalb existentialistischer Ontologien (Karl Jaspers’ Lehre des Umgrei-fenden, Paul Tillichs Selbst-Welt-Korrelation) angegangen. Solche Konzeptionen scheinen S. aber gar nicht in den Blick zu kommen, mithin auch nicht ein Begriff wie »endliche Freiheit« oder die Polarität von »Freiheit und Schicksal« – Konzepte, denen es auch um die Frage nach der personalen Autonomie geht.
Ob die von S. vorgelegte »Lösung«, die zuweilen recht konstruiert wirkt, das Problem »löst«, wage ich zu bezweifeln, zeichnen sich doch philosophische Probleme gerade dadurch aus, dass sie »perennierender« Natur sind, was aber sicherlich von so manchem Letztbegründungstheoretiker bestritten wird – und solche finden sich auch zur Genüge im Bereich der Analytischen Philosophie. Doch damit sind wir bei ganz »tiefen« Fragen nach dem Selbstverständnis der Philosophie angelangt. – Aber bei allen be­rechtigten Anfragen ist diese Dissertation eine recht originelle und eigenständige Untersuchung in Bezug auf das Problem personaler Autonomie; S.s etwas übertriebenen Anspruch mag man darüber gerne überlesen.