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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

808–809

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Irlenborn, Bernd

Titel/Untertitel:

Relativismus.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. VIII, 152 S. = Grundthemen Philosophie. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-11-046247-0.

Rezensent:

Dirk Evers

Dieser Band aus der Reihe »Grundthemen Philosophie« ist dem vieldeutigen Begriff »Relativismus« gewidmet, der der Sache nach die Debatten abendländischer Philosophie seit dem antiken Skeptizismus begleitet. Verfasst hat ihn der Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Philosophie und Theologische Propädeutik an der theologischen Fakultät der Universität Paderborn, Bernd Irlenborn. Dem Anliegen der Reihe entsprechend, führt I. in die mit diesem Begriff verbundene Thematik sowohl systematisch wie auch historisch ein, wobei eindeutig die inhaltliche Klärung von Positionen im Zentrum steht.
I. selbst vertritt eine kritische Position gegenüber allen Spielarten eines normativen Relativismus, hält aber auch Distanz gegenüber pauschaler Polemik, die im Relativismus die Gefahr für den philosophischen oder theologischen, ja gar den gesellschaftlichen Diskurs um Geltungsfragen sieht, wenn etwa das Schlagwort von einer »Diktatur des Relativismus« (Ratzinger 2005) die Runde macht. I. beginnt nach einleitenden Bemerkungen, die das Thema in ebendiesen Zusammenhang stellen, mit einer Einführung in den Begriff. Er identifiziert ein »relativistisches Grundmodell« (6), das allen philosophisch erheblichen Formen von Relativismus zu­grunde liegt, aber in vielen Varianten daherkommen kann. Im­mer geht es um die Grundfigur, dass argumentativ vertretene Ansprüche immer nur relativ zu Deutungskontexten vertreten werden können, ohne dass für diese Deutungskontexte ein nicht-relativer Maßstab zur Beurteilung zur Verfügung stünde. Das ist schon einmal die erste und für I. durchgängig wichtige Einsicht: Den Relativismus, der dann auch entweder als notwendige Voraussetzung für Pluralismus und Toleranz oder als Gefahr für die Verbindlichkeit von Wahrheit anzusehen wäre, gibt es nicht. Dazu kommt, dass zwischen deskriptivem und normativem Relativismus zu unterscheiden ist, und vor allem Letzterer eine genaue philosophische Auseinandersetzung erfordert.
Um ebendies zu leisten, stellt das dritte Kapitel ausgewählte Stationen der Auseinandersetzung mit relativistischen Positionen in der Philosophiegeschichte von Protagoras bis Nietzsche vor, auch wenn der Begriff erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s entsteht und als ausdrückliche Selbstbezeichnung für die eigene Position erst im 20. Jh. in Anspruch genommen wird. Das vierte Kapitel stellt dann Richard Rorty als Vertreter eines epistemischen, John Hick und Joseph Runzo als Vertreter eines religiösen, Paul Feyerabend als Vertreter eines vernunftkritischen und Max Köbel als Vertreter eines moralischen Relativismus vor. Bei allen diesen zeitgenössischen relativistischen Entwürfen fragt I. vor allem nach ihrer argumentativen Tragfähigkeit und kommt zu dem Schluss, dass im Kern alle Modelle als Differenzierungen eines alethischen Relativismus verstanden werden können. Diesem systematischen Kern aller relativistischen Entwürfe, dem Wahrheitsrelativismus, wendet sich das fünfte Kapitel zu. Entscheidend für die Frage nach der Wahrheit ist ihr Verhältnis zur Wirklichkeit, die als von unseren epistemischen Voraussetzungen unabhängiger Wahrmacher für Propositionen in Betracht kommt. I. ordnet deshalb den Relativismus in die Debatte um Realismus und Antirealismus ein und untersucht dann die Behauptung einer Relativität von Wahrheit anhand zweier Modelle, dem des amerikanischen historischen Konstruktivisten Joseph Margolis und dem der Schule der so ge­nannten neuen Relativisten. Beide Modelle aber, so I.s Fazit, kommen in Konsistenzprobleme, weil sich Schwierigkeiten in der Selbstanwendung der von ihnen vertretenen relativistischen Position ergeben. Im Grunde bleiben am Ende nur zwei Optionen: Entweder wird auf der Objektebene Relativität behauptet, dafür aber auf einer Metaebene nicht-relative Wahrheit in Anspruch genommen, oder es wird der Geltungsrelativismus auch auf die eigene Theorie angewendet, dann aber scheint der Relativismus auf einen Subjektivismus hinauszulaufen. Mit dem in der philosophischen Tradition an dieser Stelle immer wieder in Anschlag gebrachten Selbstwiderspruchs-Argument setzt sich dann das sechste Kapitel auseinander. Es werden zwei relativistische Modelle vorgestellt, die explizit für sich beanspruchen, eine Lösung des Selbstwiderspruchproblems liefern zu können (Benningson und Hales). I. sieht aber bei beiden die Tendenz, sich entweder in Richtung eines subjektiven Relativismus zu bewegen oder aber selbst-widersprüchlich an gewissen Wahrheitsansprüchen festzuhalten, so dass er im Fazit zu diesem Kapitel konstatiert, dass es ein »grundsätzliche[s] Problem[.]« eines jeden Wahrheitsrelativismus sei, die »Alternative zwischen selbstreferentiellem Widerspruch oder epistemisch be­langlosem Subjektivismus« (113) letztlich nicht unterlaufen zu können, auch wenn daraus nicht zwingend die Inkonsistenz des wahrheitstheoretischen Relativismus folgt.
Im kurzen Schlusskapitel kehrt I. noch einmal zu der Ausgangsfrage zurück, ob der Relativismus eine Gefahr für die Rationalität von Philosophie, Wissenschaft oder Kultur darstellt, und wägt das Für und Wider der Behauptungen von Nähe oder Distanz von Relativisten bzw. Absolutisten zu praktischen Grundhaltungen plu-ralitätsfähiger Toleranz ab. Auch wenn nach der Analyse I.s »der Relativismus in seinen normativen Spielarten keine überzeugende Theorie darstellt« (116), stellt er doch wichtige Anfragen an absolutistisch-objektivistische Positionen und übt berechtigte Kritik an Intoleranz und Gewalt. Insofern ist die Relativismusdebatte als Anlass zu verstehen, Wahrheitsansprüche immer wieder neu, un­polemisch und ohne Zwang zu prüfen. Für eine solche Auseinandersetzung stellt der Band von I. selbst ein wohltuend besonnenes und in seiner Argumentation stets um Klarheit in den Begriffen und Voraussetzungen bemühtes Beispiel dar. Leider spielen die an zentraler Stelle eingeführten Debatten um Realismus und Antirealismus am Ende doch keine argumentative Rolle mehr, und es ließe sich fragen, ob sich das Relativismusproblem angesichts neu-erer Realismuskonzepte wie denen von Dreyfus und Taylor (Re­trieving Realism, 2015) oder Gabriel (Warum es die Welt nicht gibt, 2015) verschieben würde. Um eine gut zu lesende und grundsolide Einführung in die geradezu zeitlose Problematik für Studierende ebenso wie für Fachkolleginnen und -kollegen mit deutlich markierter eigener Position aber handelt es sich allemal.