Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

805–808

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Altieri, Antoine

Titel/Untertitel:

Voir infiniment. Essai de phénoménologie théologique.

Verlag:

Paris u. a.: Parole et Silence 2016. 266 S. = Thèses de l’Institut Catholique de Toulouse. EUR 23,00. ISBN 978-2-88918888-8.

Rezensent:

Joseph S. O’Leary

Die Rückseite dieses Buches bietet zwei weitere Titel: »Vom operativen Charakter der Phänomenologie im theologischen Denken« und »Die Frage nach der Manifestation Gottes nach dem Maßstab der theologischen Wende in der Phänomenologie«. Das ehrgeizige Projekt A.s besteht darin, durch phänomenologische Analyse, ohne jemals die Grenzen der immanenten philosophischen Prozeduren zu überschreiten, zu zeigen, dass »etwas wie Gott« sich auf der Ebene des gewöhnlichen Bewusstseins manifestiert. A. macht keinen Hehl aus seinem apologetischen Zweck: bis »zum Ende der Immanenz zu gehen – um, wenn es der Fall sei, das Moment [zu] bestimmen in dem wir werden genötigt daraus zu treten. Wenn Gott Gott ist, darf er sich zeigen von der Mitte der Immanenz her« (140). Die unendliche Offenheit des Bewusstseins ist die phänomenologische Grundbedingung für diese Anerkennung der Präsenz Gottes.
A. glaubt rein philosophisch zu verfahren, doch die theologische Intention lässt sein phänomenologisches Denken nicht unangetastet. Die Geduld und der methodologische Sinn, die für die Konstruktion solcher Brücken von der Philosophie zur Theologie erforderlich sind, fehlen weitgehend. »Wir haben ein theologisches Ziel mit einem theologischen Gehalt (Gott als ›unaussprechlich‹, Gott als ›gegenwärtig‹ und als ›unendlich‹ an sich), aber wir wiederholen, dass zu keinem Zeitpunkt der Analyse dieser Inhalt als solcher eingreifen wird.« (112) Jedoch bezieht er sich unaufhörlich auf theologische Forderungen und auf die Pflicht der Philosophie, einen Gott, der als inkommensurabel und als Novum auf irgendeine Art von Signifikanz nicht reduzierbar ist, aber der dem Sein nicht fremd ist (215), heraufzubeschwören. Diese theologischen Konzeptionen sollten außerhalb der streng philosophischen Forschung liegen, als ein Ziel, das zu erreichen oder zu erreichen erwünscht ist, aber in der Praxis fressen sie sich tief in die phänomenologische Leistung ein, um sie intrusiv umzuformen.
A. betont die Wichtigkeit der »sichtbare[n] Welt« (11), aber sein Verständnis davon scheint zu wörtlich und physisch zu sein, obwohl er auch metaphorisch von einem Sehen als Erkennen der »Essenz« der Dinge spricht. Er spricht auch von »einem Streben, in die Tiefe unseres Wesens eingeschrieben, um den letzten Grund aller Dinge und insbesondere die Bedeutung unserer eigenen Existenz zu fassen« (11). Dadurch entsteht die Gefahr, dass das Thema des »Sehens« jegliche Bestimmung verliert. Der Begriff von Gott wird sofort als »ein starkes Gegenmittel gegen Un-Sinn« dargestellt; diese vorzeitige theologische Referenz, gefolgt von einer aufgeregten Argumentation gegen die Möglichkeit, dass Gott eine Projektion der Wunscherfüllung sei, und über die Notwendigkeit eines »solaren, fröhlichen, intelligenten Christentums« (13), lenkt das Buch ab von dem ruhigen Fortschritt der philosophischen Reflexion von Anfang an.
Wie andere theologisierende Phänomenologen scheint A. zu glauben, dass die Phänomenologie der königliche Weg zu einem Verständnis von Gott sei, und wenig Neugier darüber zu haben, was die konfessionelle Theologie zu diesem Thema zu sagen habe. Für diese bleibt nur die Aufgabe übrig, metaphysische und dogmatische Details und Unterscheidungen zu klären. Er empört sich über »das abscheuliche Motiv einer Philosophie, die die Dienerin der Theologie ist« (250). Aber warum sollte die Philosophie sich nicht mit einer Dienstrolle bequemen, wie die Mathematik eine solche Rolle in der Physik spielt (während sie gleichzeitig ihre eigenen autonomen Zwecke in ihrem eigenen Bereich behält, wo der Physiker nicht folgen kann)?
Lange vor den Konstruktionen der biblischen oder der kirchlichen Theologie ist die Gegenwart Gottes ein phänomenologisches Datum, und der Hauptzweck der Philosophie besteht darin, von diesem Datum Zeugnis zu geben – »natürlich nicht die Existenz Gottes zu ›beweisen‹, sondern einfach nur sie zu zeigen« (14). »Be­steht unsere Aufgabe als ›Philosophen‹ nicht darin, in einer völlig desinteressierten und freimütigen Weise uns für das Geheimnis von ›Gott‹ zu interessieren« – als Philosophen zu zeigen, »dass wir an Gott glauben, weil Gott selbst uns sich offenbart« (13)? A. erinnert uns auf fast jeder Seite an dieses Ziel und daran, wie er es mit makellos philosophischen Methoden verfolgt. Diese Mahnungen sind in dem Husserl gewidmeten Teil weniger aufdringlich (35–88). Es wäre besser gewesen, Husserl für die gesamte Länge der Arbeit in den Mittelpunkt zu stellen und die vielversprechenden Erörterungen über ihn zu einem befriedigenderen Ergebnis zu führen.
A. scheint eine durchaus philosophische Theologie erzeugen zu wollen, welche auf eine spontane und natürliche Weise innerhalb der phänomenologischen Analyse alltäglicher Erfahrung auftauchen wird. Der Inhalt dieser der Philosophie immanenten Theologie besteht wesentlich in einigen Anschauungen über Gott. Am Anfang sind diese ganz abstrakt und unbestimmt, doch bald treten konkretere Züge auf. Das Bild eines Gottes, der »unserer Schwäche« zu Hilfe kommt (215), drängt sich zunehmend auf. Dies Bild ist eingeführt ohne Rechtfertigung, und der Leser erkennt allmählich mit einigem Befremden, dass es sich um ein biblisches Zitat handelt: »der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« (Röm 8,26). Eine ganz konkrete Erfahrung des Heiligen Geistes im Gebet unterliegt und leitet den phänomenologischen Diskurs A.s über »etwas wie Gott«. Statt eine formale, minimale Definition von Gott als Arbeitshypothese und als Leitstern seiner philosophischen Erwägungen streng zu bewähren, verwendet er eine unbestimmte oder schwankende Vorstellung von Gott, ein Schwammkonzept, durchlässig für Im­porte aller Art, sei es von einer religiösen Erfahrung oder von der Schatzkammer christlicher Lehren.
Philosophie mit solch einem theologischen Hintergedanken zu treiben oder sogar in der Überzeugung, dass Theologie auch innerhalb der Philosophie das letzte und allein befriedigende Wort haben muss, hindert das Verständnis der philosophischen Themen. Der Eifer, mit dem so viele französische Philosophen sich der Konstruktion von Diskursen über Gott und Religion widmen, und das entsprechende Fehlen einer anhaltenden Diskussion über zentralere philosophische Themen müssen wohl als Symptom philosophischer Dekadenz angesehen werden. Ob das der konfessionellen Theologie geholfen hat, bleibe dahingestellt.
Der zweite Teil des Buches illustriert die Grundthese in konkreteren phänomenologischen Skizzen von der Erfahrung der Musik, des Anderen, und der Liebe – Erlebnisse, die a priori ohne Gott sind, aber die ins Bewusstsein rufen, was die Phänomenologie uns zu denken gibt: den angeborenen unendlichen Charakter des Sehens, im doppelten Sinn eines Sehens ohne Ende und eines Sehens des Unendlichen und Unaussprechlichen (109). Die Musik gibt uns »das Gefühl plötzlich intensiv zu leben, ein Gefühl der Fülle« (110). Das Wort »Fülle«, wie das Wort »Gott«, kann keine bloße Abstraktion sein: »Ein solches Wort kann nicht nur ›in der Luft‹ existieren, ohne etwas Wirkliches zu bezeichnen.« (111) Diese weiche Variante des ontologischen Arguments ist nur eine phänomenologische Wunschvorstellung ohne begriffliche Strenge. Um den Einwand, dass das Gefühl der Fülle sehr subjektiv sei, abzuweisen, verweist A. auf etwas, das er für sachlicher hält: Wenn man Musik höre, gehe die Zeit schnell vorbei, das Gefühl der Dauer sei sogar aufgehoben (113 f.). Solche Bemerkungen sind kaum überzeugend, schon allein deshalb, weil die Verhältnisse zwischen Musik und Zeitlichkeit so vielfältig sind. »Der mit dem Hören eines musikalischen Werkes koextensive Genuss ist am höchsten, wenn man fähig wird, es zu pfeifen.« (115) Man sieht nicht, wie diese Bemerkung auf die von ihm benannten musikalischen Werke – die Kunst der Fuge, die Neunte Symphonie und die Coriolan-Ouvertüre! – angewandt werden könnte.
In einer Auseinandersetzung mit Levinas, für den das Andere die Autorität des konstituierenden Subjekts und seines Bewusstseins unterminiert, verteidigt A. das Vorrecht des Bewusstseins in seiner Immanenz. »Dass der Faden der Immanenz niemals gebrochen werden darf, beruht nicht auf einer Art philosophischer Koketterie, sondern auf der Forderung, aus der Immanenz einen konkreten theologischen Satz entstehen zu lassen […], der am Herz von diesem zwanghaften Aufenthalt in der Immanenz geduldig gereift ist.« (139) Man sieht nicht klar, woher diese Forderung kommt. Wenn der theologische Satz innerhalb der philosophischen Reflexion entsteht, warum braucht man eine »Forderung«, die von einer externen Instanz zu stammen scheint? Für Levinas hat der Andere sofort Bedeutung, bevor das Bewusstsein sie ihm verleihen kann (217). Die Herrschaft des Sehens über das Gesehene ist nach Levinas demontiert im Fall des Gesichtes des Anderen. Für A. gilt dies nur im Fall des bzw. der Geliebten (173). Er sagt überhaupt nichts über das klarste Beispiel dieser Kraft des Gesichts des Nachbarn, nämlich wenn es unseren Gerechtigkeitssinn anspricht. Indem er sich auf die Liebe statt auf die Gerechtigkeit konzentriert, kann A. seine rein immanente Beschreibung der göttlichen Gegenwart bestätigen. Verliebtheit ist ein Zustand erhöhter Intentionalität, keineswegs Aussetzung oder Lähmung von Intentionalität. Bewusstsein, als unendliches Sehen mit göttlicher Unendlichkeit korreliert, wird nur in der spezifischen Erfahrung der Liebe voll verwirklicht: »Lieben heißt unendlich sehen.« (256)
Man könnte vielleicht einen wertvollen phänomenologischen Gehalt aus diesem Buch extrahieren, aber dazu wäre es notwendig, die phänomenologischen Gedankengänge aus dem einschränkenden theologischen bzw. apologetischen Rahmen zu befreien, in den sie gepresst werden.