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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

799–801

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Niemann, Hermann Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theologie in Umbruchzeiten. Rostocker Theologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zum 600. Gründungsjubiläum der Universität Rostock 2019.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 350 S. m. 45 Abb. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-374-05121-2.

Rezensent:

Konrad Hammann

Nicht einem konzisen Plan, sondern gewissen Zufällen verdankt dieser Sammelband zu vier »Rostocker Theologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« sein Zustandekommen. Den Kern des Unternehmens bildete eine biographische Abhandlung über den Alttestamentler Gottfried Quell, die Rudolf Mau auf Anregung des Herausgebers verfasste (6). Dieser Untersuchung sind drei bereits an anderen Stellen veröffentlichte Beiträge zu Ernst Sellin, Paul Althaus und Friedrich Brunstäd hinzugefügt worden, außerdem (entgegen dem Untertitel des Bandes) ein bisher unpublizierter Überblick über die Biblische Archäologie in Rostock. In das Ganze führt eine kurze Darstellung der Geschichte der Rostocker Theologischen Fakultät in der ersten Hälfte des 20. Jh.s. ein. Die verschiedenen Beiträge sind sehr unterschiedlich angelegt, schon rein formal – mal werden die beigegebenen Abbildungen durchnummeriert, mal auch nicht. Ein Vorwort und ein Autorenverzeichnis rahmen die Texte ein. Register gibt es nicht.
Im einleitenden Aufsatz beschreibt Irmfried Garbe die Situation und Entwicklung der Rostocker Theologischen Fakultät von ca. 1890–1945. Die ausweislich der Immatrikulationsfrequenzen kleine Fakultät wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jh. durch Vertreter der »positiven« Theologie bestimmt. Anhand der Geschichte der einzelnen Lehrstühle zeichnet G. das theologisch wie auch politisch überwiegend konservative Profil des Kollegiums nach. Unter den in Rostock lehrenden Theologen, die durch instruktive Biogramme vollständig vorgestellt werden, dürften besonders die Alttestamentler Ernst Sellin und Gottfried Quell, die Neutestamentler Alfred Seeberg und Friedrich Büchsel, die Kirchenhistoriker Wilhelm Walther und Johannes von Walter, die Systematiker Paul Althaus und Friedrich Brunstäd sowie der Praktische Theologe Helmuth Schreiner langfristig Bedeutung für ihre Disziplinen gehabt haben. Da die Geschichte der Fakultät während des Dritten Reichs – das Kollegium gehörte ab 1934 ausnahmslos zur Bekennenden Kirche – und ihr Wiederaufbau nach 1945 bereits wiederholt thematisiert wurden, begnügt G. sich damit, hierzu die wichtigsten Daten zu vergegenwärtigen.
Das erste Theologenporträt gibt Hermann Michael Niemann von Ernst Sellin, dem aus dem Mecklenburgischen stammenden Alttestamentler, der allerdings nur die wenigste Zeit seiner akademischen Lehrtätigkeit in Rostock verbrachte (1908–1913). Nach der an die einschlägige Arbeit Ulrich Palmers sich anschließenden prägnanten Vorstellung der beruflichen Laufbahn und der theologischen Hauptwerke Sellins zeigt N. den Alttestamentler als Biblischen Archäologen. Seine Ausgrabungstätigkeit in Taanach, Jericho (mit Carl Watzinger) und Sichem erfährt hier eine bezüglich ihrer methodischen Mängel nicht unkritische und hinsichtlich ihres Ertrages gerechte Würdigung. Erst nach der Wende 1989/90 wurde die Biblische Archäologie wieder an der Rostocker Theologischen Fakultät etabliert. Hermann Michael Niemann und sein israelischer Kollege Gunnar Lehmann berichten in einem kurzen Überblick, den Zeitrahmen des Sammelbandes überschreitend, außer über Sellins Grabungen in Palästina über ihre von 1995 an in Israel gemeinsam durchgeführten archäologischen Projekte. Dabei plädieren sie dafür, die Biblische Archäologie als wichtigen Bestandteil historischer Theologie zu verstehen (vgl. 82).
Sodann repetiert Gert Haendler in seinem Aufsatz zu Paul Althaus ausführlich Passagen aus der Althaus-Biographie Gotthard Jaspers. Er flicht in sein Buchreferat jedoch auch eigene Partien ein, so etwa eine über die Predigtpraxis des Systematikers in Rostock. Darüber hinaus führt er bisher unbekannte Quellen zur Berufung Althaus’ nach Erlangen 1925, zur Bischofswahl in Mecklenburg 1930, als man Althaus das Bischofsamt antrug, und zu Einstellungen Althaus’ und seiner Rostocker Gesprächspartner im sogenannten Kirchenkampf an. H. stellt auch die Kontakte des Erlanger Theologen nach Rostock und Mecklenburg nach 1945 zusammen. Die vielen Einzelheiten der Skizze H.s zeigen insgesamt, dass Althaus unbeschadet seiner politischen und kirchenpolitischen Positionierungen zwischen den beiden Weltkriegen im lutherischen Mecklenburg hohes Ansehen genoss.
Nach Althaus lehrte Friedrich Brunstäd fast zwei Jahrzehnte als Systematischer Theologe in Rostock. Seinem Wirken widmet wiederum Gert Haendler eine Studie, die auf Würdigungen Brunstäds und Erinnerungen an ihn von 1944 bis zur Gegenwart basiert. Auf dieser Grundlage entsteht ein facettenreiches Bild des lutherischen Theologen, der seinen akademischen Weg in Erlangen als Philosoph begonnen hatte. Brunstäds Bedeutung für die Universität Rostock und die Landeskirche Mecklenburgs zumal während des Dritten Reiches, sein beachtliches langjähriges soziales Engagement an der Spandauer Sozial-Schule und seine postum veröffent lichten Werke, unter ihnen die »Theologie der lutherischen Be­kenntnisschriften« (1951), werden besonders hervorgehoben. Als Grenzgänger zwischen Philosophie und Theologie war er unterwegs zu einer Kulturtheologie, die sich der lutherischen Lehrtradition und religionsphilosophischen Einsichten gleichermaßen verpflichtet wusste. Zu Brunstäds Schülern zählte der spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (vgl. 186–189).
Im umfangreichsten Beitrag des Bandes stellt Rudolf Mau das Lebenswerk Gottfried Quells vor, indem er zunächst Stationen des Lebensweges und der akademischen Lehrtätigkeit des Alttestamentlers rekapituliert, anschließend aus seinem Nachlass einige seiner Texte zu Themen der alttestamentlichen Theologie veröffentlicht und noch dazu acht seiner Predigten dokumentiert. Quell hat zwar nur vergleichsweise wenig publiziert, aber er war ein leidenschaftlicher Theologe, von dem offenkundig eine starke Wirkung auf seine Schüler und Predigthörer ausging. Die Empathie des höchst originellen Menschen für die Kreatur äußerte sich in einer Vorliebe für und zu Katzen, die mitunter seltsame Blüten trieb. Jedoch verfügte Quell – und davon vermitteln seine Texte einen gewissen Eindruck – über die seltene Gabe, die biblischen Texte wirklich zu vernehmen, sie zu hören und geradezu zu sehen sowie seine Hörer – unter schwierigen äußeren Voraussetzungen im Dritten Reich und in der DDR – mit der biblischen Botschaft zu erreichen und zu bewegen.
Der Sammelband enthält viel Material zu Rostocker Theologen in der ersten Hälfte des 20. Jh.s, etliches bereits Publiziertes, aber auch nicht wenig Unveröffentlichtes. Dieses Material allererst zu sortieren und vielleicht auch in einer ansprechenden literarischen Gestalt zu präsentieren, war wohl nicht das Hauptziel der Autoren. Aber auch in der vorliegenden Fassung gewähren diese Beiträge instruktive Einblicke in die Rostocker »Theologie in Umbruchzeiten«.