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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

797–799

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

König, Katrin

Titel/Untertitel:

Begnadete Freiheit. Anselm von Canterburys Freiheitstheorie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XII, 382 S. = Collegium Metaphysicum, 15. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-154384-5.

Rezensent:

Martin Kirschner

In ihrer bei Christoph Schwöbel in Tübingen verfassten Promo-tionsschrift legt Katrin König eine gründliche historisch-systema-tische Rekonstruktion der Freiheitstheorie des Anselm von Canterbury vor, deren systematisches Gewicht sie für ein heutiges philosophisches und theologisches Verständnis von Freiheit erschließt. Dabei sticht dem katholischen Theologen besonders ins Auge, wie K. ein reformatorisches Verständnis begnadeter Freiheit bei An­selm begründet findet und in einer philosophisch-metaphysischen Argumentation für heutige Debatten erschließt. Gerade der argumentative Aufweis eines dezidiert theologischen Verständnisses von Freiheit, die paradoxerweise der göttlichen Gnade bedarf, um ihre Eigenständigkeit vollziehen zu können, macht die Eigenart der Freiheitstheorie Anselms aus.
Sowohl die systematischen Diskussionen des Freiheitsverständnisses in Theologie und Philosophie wie den mittlerweile sehr differenzierten Forschungsstand zu Anselm stellt K. in einem knappen Überblick umsichtig dar (3–22). Die Auseinandersetzung mit den jüngeren Studien zu Anselm, ihren unterschiedlichen Ansätzen und Interpretationen durchzieht K.s Studie vor allem in den Fußnoten. Im Hauptteil der Arbeit entwickelt K. ihre eigene These in einem systematischen Durchgang durch Anselms Theologie: Ausgehend von der (schöpfungs-)theologischen Grundlegung (Abs. 1) erörtert sie den Zusammenhang von Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit (Abs. 2) und die »Verknechtung des freien Wahrvermögens« angesichts der Verstrickung im Bösen (Abs. 3). Die Freiheit Jesu Christi, sein befreiendes Handeln und dessen Wirkung werden in Abs. 4 untersucht, um anschließend das problematische Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit im Blick auf Vorauswissen und Prädes-tination Gottes zu erörtern (Abs. 5). Die Diskussion des Zusammenhangs von Freiheit und Gnade an De concordia III (Abs. 6) wertet die historisch-systematische Interpretation Anselms auf K.s systematische These begnadeter Freiheit hin aus. Die Stärke dieses Vorgehens liegt in der Systematik und Stringenz der Argumentation, die in souveräner Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur geführt wird. Die Schwäche sehe ich darin, dass der Argumentationsduktus, die werkgeschichtliche Entwicklung und vor allem die spezifische Form von Anselms Theologie dabei verloren gehen. So erscheint seine Theologie als eine statische, begrifflich-metaphysische Rekonstruktion des christlichen Glaubens. Das Prozesshafte, Suchende, oft existentiell und im Gebet Ringende, das dem Programm der fides quaerens intellectum entspricht und in der eigentümlichen Verschränkung von Argumentation, Reflexion und Gebet, von diskursiven und poetischen Passagen zum Ausdruck kommt, geht vollständig verloren. Ich halte diese Form aber für zentral: Sie leitet zum Mitvollzug an und verbindet diesen mit dem Gebet um die Gnade der Einsicht und mit dem Dank für gewonnene Einsicht. Diese Eigentümlichkeit geht in K.s Darstellung verloren. Das gesamte Werk Anselms ist ein Ringen um die Möglichkeit, die Erlösung des Sünders und die Befreiung der im Selbstwiderspruch verstrickten Freiheit zu denken – und es ist offen, ob dies gelingen kann. Der Widerspruch von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes in Proslogion 9–11 kann denkerisch nicht durchschaut werden (auch wenn die Einheit im Glauben bejaht wird). Das erste Buch von Cur Deus homo endet aporetisch und stellt die Möglichkeit letzter Absurdität und eines Scheiterns des Heilswillens Gottes vor Augen. Diese kann nur aufgelöst werden vom Ereignis des Gottmenschen her, aufgrund einer Hingabe und Liebe, wie sie größer nicht gedacht werden können. Demgegenüber scheint bei K. von Beginn an alles entschieden, insofern mit recht abstrakten Begriffen von Allmacht und Gnade operiert wird.
Abgesehen von dieser Kritik – die allerdings folgenreich ist – halte ich die Studie von K. auf der begrifflichen Ebene, in der Analyse der Argumentation und in ihren Positionierungen zum Forschungsstand für herausragend. Die detaillierte Auseinandersetzung mit den von ihr an Anselm verhandelten Sachproblemen eines theologischen Freiheitsverständnisses ist unbedingt zu empfehlen, wobei die Darlegung der Hauptthese (23–29) und die systematische Auswertung am Schluss einen guten Einstieg bieten, von dem aus auch gezielt einzelne Kapitel studiert werden können. Ich beschränke mich auf wenige Anmerkungen zur Hauptthese des Buches, »dass Anselm eine gnadentheologisch begründete Konzeption transautonomer Freiheit entwickelt, die analytisch als ein mo­difizierter theologischer Kompatibilismus beziehungsweise Kompossibilismus charakterisiert werden kann und geschichtlich eine konstruktive Weiterführung des biblisch-augustinischen Erbes darstellt« (25 f.).
Das Grundproblem christlicher Theologie, wie die göttliche Gnade menschliche Freiheit so begründen kann, dass sie in Autonomie und Eigenstand und nicht in Konkurrenz zu Gott gesetzt wird, findet durch Anselms Definition der Freiheit eine überraschende Lösung, die K. hervorragend herausarbeitet. Indem er Freiheit als das Vermögen bestimmt, die Rechtheit des Willens um ihrer selbst willen zu wahren (De lib. 3), fasst er sie nicht als Wahl- oder Willkürfreiheit, sondern als eine Freiheit zum Guten, die als rechte Beziehung (rectitudo) gefasst wird. Diese besteht in der »Übereinstimmung mit Gott, seinem eigenen Wesen und der ge­schaffenen Natur« (27), in der Gerechtigkeit, das Rechte um seiner selbst willen zu wollen, was die vorrangige motivationale Ausrichtung des Willens am Gerechten und die Nachordnung des Strebens nach Glück bereits als Gabe voraussetzt. K. bestimmt Freiheit daher nicht als »selbstursächliches Initiierungsvermögen gegenüber der Natur, sondern als ein responsives Bewahrungsvermögen in Beziehung zu Gott« (26 f.109–111). Damit werde ein präautonomes Verständnis von Freiheit ebenso ausgeschlossen wie ein heteronomes, vielmehr sei über die Figur einer »theonomen Autonomie« hinaus von einem »transautonomen Freiheitsverständnis« zu sprechen (328–331), das nicht nur »ethisch-subjektbezogenen Charakter hat« (26), sondern grundlegend ein »Vermögen richtiger Relationalität« bezeichne (331).
K. stellt zu Recht heraus, dass damit »die Pointe« von Anselms Freiheitsbegriff »nicht bloß in vernunftbestimmter, sittlicher Selbstgesetzgebung besteht, sondern […] in Übereinstimmung mit dem göttlichen Liebeswillen zu wollen« (330). Am Ende betont K. die Verknechtung der Freiheit unter der Sünde und die Alleinwirksamkeit Gottes so stark, dass Eigenständigkeit, formale Freiheit und Verdienst des Menschen nicht mehr in den Blick kommen (vgl. z. B. 207–210 und bes. 350–353). Hier scheint die konfessionelle Brille die Anselminterpretation etwas zu überformen: So entschieden Anselm eine Unabhängigkeit geschöpflicher Freiheit von Gott und die Möglichkeit jeder Selbsterlösung ablehnt, so deutlich lädt er zum freien vernünftigen Nachvollzug seiner Argumente ein, betont die Würde und den Mehrwert einer Bewährung der Freiheit im Guten (im servare und in der perseverantia) und lädt dazu ein, sich aus dem Übermaß göttlicher Liebe zum aktiven Mitvollzug dieser Liebe verwandeln zu lassen.
K.s Studie erarbeitet das Freiheitsverständnis Anselms auf einer begrifflichen Ebene in ganz hervorragender Weise und erbringt zugleich einen gewichtigen Beitrag zur heutigen philosophischen und theologischen Auseinandersetzung um eine Theorie der Freiheit. Ihre provokante und konsequente Theozentrik ist mit Anselm argumentativ gut begründet und sollte eine breite Rezeption und Auseinandersetzung provozieren.