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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

794–797

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Heckel, Ulrich, Kampmann, Jürgen, Leppin, Volker, u. Chris-toph Schwöbel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Luther heute. Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. IX, 394 S. = UTB 4792. Kart. EUR 19,99. ISBN 978-3-8252-4792-8.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Di Fabio, Udo, u. Johannes Schilling [Hrsg.]: Die Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat. München: C. H. Beck Verlag 2017. 213 S. m. Abb. u. Ktn. Kart. EUR 16,95. ISBN 978-3-406-70078-1.


Der Band »Luther heute« dokumentiert eine Tübinger Ringvorlesung über die Hauptthemen von Luthers Theologie, ihre Wirkungsgeschichte und ihre Gegenwartsbedeutung. Die einzelnen Beiträge setzen dabei unterschiedliche Schwerpunkte: Vielfach geht es vor allem um Luthers Anschauungen zu einem bestimmten Thema, während die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte sowie die Gegenwartsbedeutung selten ausführlicher in den Blick ge­nommen werden. Die ausgewogenste Mischung aller drei Aspekte bietet der Beitrag von Friedrich Schweitzer, der konzis und klug das reformatorische Bildungsprogramm, seine Auswirkungen über 500 Jahre hinweg und seiner »Zukunftsbedeutung« angesichts der gegenwärtigen Situation skizziert.
Andere Beiträge konzentrieren sich auf einen der Aspekte: Thomas Kaufmanns zu Recht auf den christologischen Dissens fokussierte Darstellung von Luthers Sicht anderer Konfessionen und Religionen klammert die Wirkungsgeschichte und Gegenwartsbedeutung ganz aus, und in Ulrich Heckels handbuchartiger Darstellung von Luthers Taufverständnis wird beides nur am Rande angesprochen; Elisabeth Gräb-Schmidt und Birgit Weyel entwickeln ihre Themen (Ehe und Familie bzw. Seelsorge) in Form einer auf die gegenwärtige Situation bezogenen systematisch-theologischen bzw. praktisch-theologischen Studie, die sich zwar von Luther anregen lässt, diesen selbst aber nur kurz behandelt; und Albrecht Geck richtet in seinem reich illustrierten Beitrag über den »Pro-testantismus und (seine) Bilder« den Blick vor allem auf das Zeitintervall zwischen Luther und heute.
In der Reihe der behandelten Themen finden sich des Weiteren: Bibel (Christoph Schwöbel), Wille (Friedrich Hermanni), Gnade (Friederike Nüssel), Christus (Walter Sparn), Ethik (Eilert Herms), All-gemeines Priestertum (Volker Leppin), Kirchenordnung (Jürgen Kampmann), Musik (Johannes Schilling), Predigt (Rainer Preul), Staat (Wilfried Härle) und römisch-katholische Lutherrezeption im 20. Jh. (Bernd Jochen Hilberath), während man Themen wie Glaube, Mensch oder Abendmahl sowie grundsätzliche Überlegungen zur Genese und Systematik von Luthers Denken vermisst. Die in den einzelnen Beiträgen gebotenen Ausführungen über Luthers Theologie fassen zumeist das kirchen- und theologiegeschichtliche Grundwissen zum jeweiligen Thema zusammen, wobei die Entwicklung von Luthers Denken allenfalls am Rande bedacht und die Lutherforschung der letzten Jahre nicht immer berücksichtigt wird.
Im Einzelnen ließe sich viel Lobendes und Kritisches zu den Lutherdeutungen bemerken, wobei die Beiträge trotz aller Einwände durchweg eine anregende Lektüre bieten. Hinsichtlich der im Untertitel benannten »Ausstrahlungen der Reformation« muss das Urteil allerdings kritischer ausfallen: Was die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte angeht, wird aus kaum einem Beitrag deren Komplexität und die Schwierigkeit von deren Nachzeichnung über fünf Jahrhunderte hinweg deutlich. Unbefriedigend ist der Band auch, was die Thematisierung der Gegenwartsbedeutung von Lu­thers Theologie angeht, lassen viele Beiträge doch weder die Ab­ständigkeit und Anstößigkeit noch die Überwältigungsmacht und Überzeugungskraft von Luthers Denken erkennen. Zu oft wird die bleibende Bedeutsamkeit Luthers einfach behauptet und die »Luther-Fremdheit in der Neuzeit« (G. Ebeling) auf die leichte Schulter genommen. Was das Bewusstsein für diese Lutherfremdheit und die Vorschläge für die Nutzbarmachung von Luthers Theologie für das gegenwärtige Christentum angeht, so weisen neben dem Beitrag von Schweitzer vor allem die von Sparn und Preul in die richtige Richtung: Hier werden Möglichkeiten be­nannt, mit denen man auch fünf Jahrhunderte nach der Refor-mation deren Erbe lebendig halten kann. Obwohl der Band also eigentlich nicht die in Titel und Untertitel angegebenen Themen behandelt, sondern vor allem den Ausgangspunkt der »Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation« und ihrer Bedeutung für das »Heute«, lohnt sich seine Lektüre – und zwar vor allem dann, wenn man die so unterschiedlich ausfallenden Lutherdarstellungen mit der Frage im Hinterkopf liest, ob der Titel des Buchs nicht besser »Luther heute?« oder »Luther heute!« heißen müsste, und sich selbst dieser Alternative zu stellen versucht. Der Band lässt sich auf diese Weise durchaus auch als Studienlektüre verwenden, wobei allerdings die mangelnde Einheitlichkeit in der Strukturierung der einzelnen Beiträge, die Verwendung zu vieler unterschiedlicher Quellenausgaben, der Verzicht auf Forschungs- und Literaturüberblicke und das Fehlen von Abkürzungsverzeichnis und Indizes Studierenden den Zugang erschweren dürften.
Ebenfalls in Form eines handlichen Taschenbuchs haben Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 Aufsätze zur »Weltwirkung der Reformation« vorgelegt. Der mit Abbildungen, Karten und Personenregister ausgestattete Band wendet sich an ein breiteres Publikum. Die be­teiligten Kirchenhistoriker geben in drei Beiträgen einen Überblick über die Geschichte der Reformation im 16. Jh. (Thomas Kaufmann, 13–66), über die weltweite Ausbreitung des Protestantismus bis zur Gegenwart (Dorothea Wendebourg, 117–145) und über die Bedeutung der Reformation für die Rechtsgeschichte als eines Beispielfalls ihrer »Weltwirkung« (Christoph Strohm, 170–194). Flankiert werden diese historisch orientierten Beiträge durch zwei Miszellen zur Stadt Wittenberg (Stefan Rhein, 67–72) und zu Luthers Bibelübersetzung (Thomas Söding, 73–80), die den Blick auf Luther als den Hauptprotagonisten der Reformation lenken. Ergänzt wird der historische Zugang durch drei Beiträge, die nach der Deutung, Bedeutung und Erinnerung der Reformation fragen.
Detlef Pollack analysiert am Beispiel der Reformationsdeutung von Trutz Rendtorff und Brad Gregory das Problem der Vereinnahmung der Reformation für bestimmte Geschichtserzählung und Gegenwartsdeutungen und stellt angesichts der konträren »Meis-tererzählungen« die Frage nach der »Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt« (81–118). Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich davon ab, was man unter ›Moderne‹ versteht. Pollack verweist auf drei Charakteristika (funktionale Differenzierung, Individualisierung, Einrichtung sozialer Wettbewerbsarenen), deren Geschichte er über ein Jahrtausend hinweg im Überblick verfolgt und die er auch mit dem religiösen Umbruch des 16. Jh.s in Zusammenhang sieht. Allerdings sei »[i]nsgesamt gesehen […] der Beitrag der Reformation zur Herausbildung der modernen Welt […] eher gering« zu veranschlagen, handele es sich doch um einen schon im hohen Mittelalter beginnenden und erst im 18. Jh. seine Veränderungsmacht eigentlich entfaltenden Prozess. Der wichtigste Beitrag der Reformation zur Moderne sei neben der Verstärkung der Individualisierung die von ihr gar nicht beabsichtigte Zersprengung der kirchlichen Einheit Lateineuropas, die Freiräume geschaffen habe, allerdings auch wegen der auf s ie folgenden Konfessionalisierung und Konfessionskriege der Moderne gerade nicht vorgearbeitet habe. Diese Sichtweise ist nicht neu, und über den Umbruchcharakter der Reformation und ihr Verhältnis zur Neuzeit ist bereits viel diskutiert worden, ohne dass sich allerdings ein Konsens herausgebildet hätte. Pollack gehört in dieser Diskussion zu denen, die die Reformation in einen langgestreckten Transformationsprozess einordnen und damit relativieren.
Dasselbe Thema wie Pollacks Beitrag behandelt auch Udo Di Fabios Abhandlung zur »Dialektik der Neuzeit im Geist der Reformation« (146–169), die allerdings anders argumentiert und den Beitrag der Reformation zur Moderne stärker würdigt. Auch für Di Fabio ist es nicht etwas von der Reformation in ihrer Selbstwahrnehmung für wichtig Gehaltenes, was ihre Bedeutsamkeit für die Neuzeit ausmacht, sondern die sich in ihrem Umgang mit Tradition und Institution als kritisches Prinzip durchsetzende »Dialektik«, die zugleich zu einer Ausdifferenzierung der Lebenswelt und zu ihrer Ordnung geführt habe. Die Verbindung von Freiheit und Verantwortung, die Di Fabio in der Reformation zu entdecken meint, hält er auch heute für erinnernswert und kann darum die Frage nach der Gegenwartsbedeutung der Reformation im Grundsatz bejahend beantworten. Allerdings weiß auch er, dass der »Um­bruch« der Reformation »gewaltig und gewalttätig war«, dass auf ihn ein »lange[r] und schmerzhafte[r] Weg« folgte und dass es kein »schnurgerades Gleis von Modernisierung« gibt, das 2017 mit 1517 verbindet. Am Schluss des Bands stehen Ulrike Jureits »Beobachtungen zum Reformationsgedenken 2017« (195–206), die das von Pollack und Di Fabio behandelte Thema mit Blick auf 2017 vertiefen. Wird man den kritischen Bemerkungen der Verfasserin zu den problematischen Auswüchsen des Jubiläumsbetriebs – zumal der kurzschlüssigen und unflektierten Reformationserinnerung seitens des kirchenamtlichen deutschen Protestantismus – weithin zustimmen können, so ist ihr Vorschlag, »Reformation als Konfliktgeschichte« zu erinnern, wenig überzeugend. Zwar ist es richtig, die Präsentation der Reformation als des glorreichen Auftakts »einer langen europäischen und bis heute identitätsstiftenden Freiheitsgeschichte« zu hinterfragen, sie dann aber kurzerhand als »eine verstörende, in weiten Teilen bestürzend gewalthafte und auf die Ambivalenzen der späteren Moderne bereits verweisende Konfliktgeschichte« zu charakterisieren, auf die »Sprengkraft« der durch sie »in Unordnung geratenen Herrschaftsverhältnisse«, die zu den »Religions-, Konfessions- und Staatsbildungskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts« führte, zu verweisen und das darauf reagierende Ordnungsbemühen als ambivalent und allenfalls langfristig auf die Moderne hinführend zu betrachten, verfällt in das entgegengesetzte Extrem.
Man fragt sich, was die Erinnerung an eine so betrachtete Reformation heute zu leisten vermag: Viel mehr als die Erleichterung, diese geschichtliche Phase überwunden zu haben und in einer heute glücklicherweise nicht von konkurrierenden Wahrheitsansprüchen und religiös motivierten Gewaltausbrüchen bestimmten Welt zu leben, dürfte dann mit der Reformationserinnerung nicht verbunden sein. Allerdings weiß die Verfasserin selbst, dass unsere Gegenwart nicht ganz so unproblematisch ist, und sie wird auch zugestehen müssen, dass beileibe nicht nur die Geschichte der Reformation eine »Konfliktgeschichte« ist. Vielmehr – und da hat der sich rationaler geschichtswissenschaftlicher Steuerung entziehende Jubiläumsrummel nicht ganz Unrecht – gibt es eine positiv zu würdigende Gegenwartsrelevanz der Reformation. Diese wird in dem Band nicht so sehr durch argumentativen Aufweis und begriffliche Fixierung erkennbar, sondern durch die schlichte Erzählung, wie sie vor allem die Beiträge von Kaufmann und Wendebourg bieten. Beide zeigen, dass der Reformation trotz aller Verflochtenheit in ihre Vor- und Nachgeschichte eine besondere Bedeutung zukommt und dass ihr Erneuerungsimpuls auf die Formierung der modernen Welt eingewirkt hat.