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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

793–794

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bräutigam, Michael

Titel/Untertitel:

Gemeinschaft mit Christus. Adolf Schlatters Christologie der Beziehung. Aus d. Engl. übers. v. Th. Wehr.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2017. 239 S. Kart. EUR 48,90. ISBN 978-3-290-17897-0.

Rezensent:

Michael Hüttenhoff

Das Buch ist die deutsche Übersetzung der Edinburgher Dissertation Michael Bräutigams, die 2015 mit dem Adolf-Schlatter-Preis ausgezeichnet wurde. B. lehrt inzwischen als Dozent an der evangelikalen Melbourne School of Theology Theologie und Kirchengeschichte. Mit seiner Arbeit hat B. die erste Monographie zu Schlatters Christologie vorgelegt und damit eine Forschungslücke ge­schlossen.
Im ersten Teil des Buchs gibt B. einen Überblick über Schlatters Biographie und Theologie (1. Kapitel: »Wer war Schlatter?«) und bestimmt dessen Ort in der Theologiegeschichte, indem er Schlatters Verhältnis zu führenden Theologen seiner Zeit analysiert (2. Kapitel: »Wo war Schlatter?«). Besonders aufschlussreich ist, was B. über das Verhältnis Schlatters zu Adolf von Harnack und zu Karl Barth schreibt. Der zweite Teil bietet eine systematische Interpretation der Christologie Schlatters. B. strukturiert seine Darstellung, indem er Schlatters Unterscheidung von Sehakt (3. Kapitel), Denkakt (4. und 5. Kapitel) und Lebensakt (6. Kapitel) folgt.
1. Der Sehakt: Für Schlatter ist nach B. der Theologe wie jeder andere Wissenschaftler primär Beobachter (131). Den Begriff ›Seh­akt‹ habe er verwendet, um den »Prozess des Beobachtens von Gottes Werken in der Schöpfung, in der Geschichte und in der Schrift« (132) zu bezeichnen. Dieses Sehen schließe jedoch eine »subjektive Beteiligung« (134) nicht aus, vielmehr führe »der gewissenhafte Exeget […] den Sehakt aus der Position des Glaubens heraus« (137) durch. Wegen der grundlegenden Bedeutung, die dem Sehakt für Schlatters Methode zukommt, spricht B. von einem ›em­pirisch-kritischen Realismus‹ (129). Seine exegetische Arbeit führte Schlatter dazu, für das Neue Testament ein einheitliches Verständnis Jesu Christi anzunehmen und Jesus ein »vollkommenes messianisches Selbstbewusstsein« (143) sowie den Willen zum Kreuz und zur Versöhnungstat zuzuschreiben.
2. Der Denkakt: Den Übergang zum Denkakt bestimmt B. als »Schritt von der Exegese zur Dogmatik« (147). In den Kapiteln über den Denkakt arbeitet er den relationalen Charakter der Christologie Schlatters heraus: Jesus stehe »als handelndes Wesen« (37) »in einer doppelten Gemeinschaft, und zwar einerseits in einer Beziehung zu Gott und andererseits zu uns Menschen« (148). Die Beziehung zu Gott bestimme Schlatter als »Willenseinheit« (160) mit dem Vater. Aufgrund der Beziehung seien auch ontologische Aussagen möglich (151). Die Willenseinheit offenbare die »Wesenseinheit mit dem Vater« (160). Die Beziehung zu Gott sei die Grundlage der Beziehung zu uns Menschen, sein Menschendienst beruhe auf seinem Gottesdienst. Das Kreuz sei »für Schlatter zunächst eine Angelegenheit zwischen dem Vater und dem Sohn« (194 f.). In »der äußersten Verlassenheit« am Kreuz zeige sich »der Höhepunkt der Gehorsamkeit Jesu gegenüber dem Vater« und damit offenbare »er die Vollkommenheit seiner Willensgemeinschaft und Wesensgem einschaft« (195). Der Menschendienst Jesu habe zum Ziel, die neue Gemeinde aufzurichten (185). Indem sich »Jesus am Kreuz dem Vater als vollkommene Gabe darbringt, empfängt er die neue Glaubensgemeinde als Geschenk vom Vater und wird zugleich als Herr über sie ausgerufen« (195). In dieser Gemeinde verwirkliche sich eine »noch nie da gewesene Qualität der Gottesbeziehung« (193).
3. Der Lebensakt: Der Sehakt und der Denkakt »führen auf organische Weise zum existenziellen Lebensakt« (197), den Schlatter begrifflich als »Anschluss an Jesus« (z. B. 202) fasste. Das »Ziel des Theologen« sollte sein, »eine grundlegende existenzielle und ethische Veränderung durch die Begegnung mit Jesus Christus zu erleben« (199). Als zentralen Punkt der Veränderung bestimmt B. die Einigung unseres Willens mit Gott. An dieser wirke nach Schlatter der Heilige Geist mit (209), aber sie vollziehe sich nicht, ohne dass der Glaubende sie existentiell bejahe (210).
Das Verdienst des Buches ist, dass es eine systematisch profilierte Interpretation der Christologie Schlatters im Kontext der Theologie seiner Zeit bietet. Da B. im systematischen Teil entwicklungsgeschichtliche Fragen unberücksichtigt lässt und unterschiedslos auf Schriften, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, zurückgreift, bleibt jedoch unklar, ob die Grundzüge von Schlatters Christologie von Anfang an feststanden oder sich nach und nach herausbildeten und ob Schlatter im Laufe seiner Wirksamkeit Modifikationen vornahm.
Zweifellos enthält Schlatters Denken einige anregende Ele-mente wie die Überlegungen zu »Jesu Willenseinheit mit dem Vater« (159) oder zum Verhältnis zwischen dem Wirken des Heiligen Geistes und den »natürlichen Funktionen« (212) unseres Le­bens. Aber B. überschätzt das Potential der Theologie Schlatters und überdeckt ihre Schwächen. Unbefriedigend ist vor allem, wie B. Schlatters Begriff des Sehakts analysiert. So bestimmt er dessen Verhältnis zur Dogmatik widersprüchlich, wenn er einerseits dem Sehakt neben der historischen auch eine dogmatische Aufgabe zuschreibt (136) und andererseits den Übergang von Sehakt zum Denkakt als »Schritt von der Exegese zur Dogmatik« (147) inter-pretiert. Widersprüchlich ist auch, wenn einerseits dem Glauben ein Sehen vorausgehen (102) und andererseits der Sehakt »aus der Position des Glaubens heraus« (137) durchgeführt werden soll. Problematisch ist, dass Schlatter und B. die Wahrnehmung neutestamentlicher Texte als eine Wahrnehmung von außertextlichen Tatsachen verstehen. So gilt ihnen die Wahrnehmung neutestamentlicher Aussagen über Jesus als Wahrnehmung des wirklichen Jesus. Das ist nicht empirisch, sondern unkritisch.