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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

791–793

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Tauss, Susanne, u. Ulrich Winzer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Miteinander leben? Reformation und Konfession im Fürstbistum Osnabrück 1500 bis 1700. Beiträge der wissenschaftlichen Tagung vom 3. bis 5. März 2016. Hrsg. im Auftrag des Landschaftsverbands Osnabrücker Land e. V.

Verlag:

Münster: Waxmann Verlag 2017. 418 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-8309-3600-8.

Rezensent:

Daniela Blum

Das Phänomen der frühneuzeitlichen Bikonfessionalität ist sicher genauso gut erforscht wie die Geschichte des einzigen bikonfessionellen Flächenterritoriums des Alten Reiches, des Fürstbistums Osnabrück. Was diesen Sammelband spannend macht, ist der Zu­griff: Es geht den Autorinnen und Autoren nicht darum, die konfessionellen Scharmützel nachzuzeichnen, die in den Archiven breit erhalten sind. Vielmehr wählten sie interessante bikonfessionelle Räume aus und untersuchten sie in ihren Mechanismen des Zusammenlebens: Im Osnabrücker Land sind das zunächst die Klöster. Im Stift Börstel etwa gelang aufgrund einer bedächtigen Einführung von Neuerungen die Etablierung eines evangelischen Stifts mit zwei katholischen Damen. Auch das Haus, die Nachbarschaft und die Schule waren bikonfessionelle Räume:
I. Schmidt-Voges zeigt, dass die Haushalte existentiell auf die Einbindung in ein nachbarschaftliches und verwandtschaftliches Netzwerk angewiesen waren. Die Konfession »konnte und durfte kein umfassendes Unterscheidungs- und Exklusionskriterium sein, sollte das Gemeinwesen nicht fundamental destabilisiert werden« (236). Die Kinder gingen de facto doch in die Dorfschule, wenn die gleichkonfessionelle Schule zu weit weg war – auch wenn das Recht konfessionell getrennte Schulen vorsah. Schließlich bildeten Simultaneen und Wallfahrtsorte Räume des konkreten bikonfessionellen Zusammenlebens: Der Taufstein im Badberger Simultaneum etwa wurde – wieder gegen die ursprüngliche rechtliche Re­gelung – von beiden Konfessionen genutzt. Daher hatte er zwei verschiedene Klappen und zwei, durch eine Wand getrennte Becken. Weil offensichtlich auch die Katholiken mit dem Abendmahl in beiderlei Gestalt sympathisierten, ist in Badbergen ein katholischer Kelch zur Ablution, zum Nachspülen der Hostie, überliefert.
Der materiellen Dimension der Bikonfessionalität gehen auch andere Beiträge nach: K. Niehr beschreibt die Translozierung des alten Retabels – eines monumentalen Reliquienschranks – der Os­nabrücker Kathedrale in das Kloster Gertrudenberg als »Prozess des Rückzugs der Reliquienverehrung aus der Öffentlichkeit« (279). H. Queckenstedt diskutiert das expressiv-sinnliche Wallfahrtswesen im Osnabrücker Land u. a. am Beispiel der Ruller Blutmonstranz, O. Weckenbrock analysiert die kulturellen Manifestationen niederadeliger Existenz zu Memorialzwecken in einzelnen Kirchspielen. S. Reichert schließlich zeigt an einer Stiftung, dass sich der Konflikt um die Gültigkeit einer auf Ewigkeit angelegten Stiftung in nachreformatorischen Zeiten oft genug materialisierte, in diesem Fall als Streit um die Wachsspende für einen Altar. Vom Zu­stand der Kirchenräume und ihrer Ausstattung berichten auch die Visita-tionsprotokolle des A. Lucenius, der 1624/25 das Osnabrücker Land bereiste – konkret von verdreckten Kirchen, unbenutzten Al­tären, schimmeligen Hostien und schmutzigen vasa sacra. Von den Pries-tern verlangte Lucenius die Aufgabe der oft kinderreichen Konkubinatsbeziehungen und zeigte damit seine »Ignoranz […] ge­genüber der materiellen Situation des Pfarrerhaushalts« (218). Mit der Analyse von Räumen und Artefakten verwirklicht der Band die von I. Schmidt-Voges angemahnte Erforschung der gelebten – und nicht nur der normierten – Bikonfessionalität. Die 56 Abbildungen in der Mitte des Bandes demonstrieren diesen Zugang zu Akteuren und Räumen, Praktiken und Dingen. Allerdings wäre hier eine Übersicht hilfreich gewesen.
Die Analyse der räumlichen und materiellen Dimensionen der Bikonfessionalität im Fürstbistum wird um Theologie- und Herrschaftsgeschichte ergänzt: V. Leppin beschreibt, dass erst die poli-tischen Aushandlungsprozesse die erbitterte Auseinandersetzung um die religiöse Wahrheit relativierten. Zwar gelang es dem Augsburger Religionsbescheid 1530, die sich erbittert bekämpfenden Bewegungen in ein »lebbares Verhältnis« (39) zu setzen und die Wahrheitsfrage von der Reichsfriedenssache zu trennen. Aber erst mit dem Westfälischen Frieden und dessen Durchsetzung eines »Primat des Politischen« (41) konnten sich die inzwischen entwi-ckelten Modelle von Duldung und Toleranz durchsetzen. Was S. Pufendorf für das Alte Reich insgesamt forderte, manifestiert sich gerade auch im Fürstbistum Osnabrück: dass konfessionelle Koexis­tenz im Verzicht begründet lag, »die Wahrheitsfrage zur Leitfrage politischen Handelns hinsichtlich der Religion zu machen« (47).
In der Stadt Osnabrück trat die evangelische Lehre spätestens 1522 in Gestalt des Augustinereremiten Gerhard Hecker auf. Sie traf auf vorbereiteten Boden, stand der Pfarrklerus doch auch hier in der Kritik der Laxheit, rekrutierte sich das Domkapitel nicht mehr aus den führenden Familien und hatten die erfolgreichen Klöster den Neid der Handwerker auf sich gezogen. Es folgten eine Reihe lutherischer Bischöfe, die aber keine lutherischen Reformen entwickelten. Diese »konfessionell indifferenten Jahrzehnte zwischen 1570 und 1624/5« (215) werden unterschiedlich bewertet: als »Vielfalt an religiöser Wirklichkeit« (18), als »konfessionelle[r] Schwebezustand« (G. Steinwascher, 18), »konfessionelles Niemandsland« (V. Press, 18), »konfessionelle[r] Wildwuchs« (T. Penner, 214) oder »kleinräumige[r] Ritualismus« (W. Seegrün, 226). S. Westphal hingegen bezeichnet das Osnabrücker Herrschaftsmodell vor 1650 als innovativ: »Das gemischtkonfessionelle Fürstbistum mit einem lutherischen Fürstbischof an der Spitze, der den katholischen Institutionen und Untertanen ein Existenzrecht einräumt und gleichzeitig auf die Ausübung seines Reformationsrechts und den Aufbau eines lutherischen Kirchenregiments verzichtet, war offenbar durchaus eine Option im konfessionellen Zeitalter« (109) und setzte sich leicht modifiziert auch langfristig durch. Nach einer Phase der Rekatholisierung legte die Capitulatio perpetua Osnabrugensis (1650) nämlich den konfessionellen Status der Kirchspiele endgültig fest. Sie etablierte auch das einzigartige Modell einer alternativen Sukzession in der Besetzung des Fürstbischofsstuhls zwischen einem protestantischen Welfenprinzen und einem katholischen Kandidaten. Die friedliche Koexistenz im Fürstbistum war freilich weder intendiert noch geregelt, erwies sich jedoch als pragmatische Lösung zwischen Konfessionalisierung und konfessioneller Labilität. Dementsprechend begrenzt in seiner Erklärungskraft – und das diskutieren einige Beiträge – zeigt sich hier das Konfessionalisierungsparadigma, das von einer »Einheit von politische und konfessionellem Raum« (101) ausgeht.
Die Grußworte zu Beginn überfrachten den Band mit der heutigen Realität, konkret mit Fragen nach einem Miteinander der Religionen und dem gesellschaftlichen Umgang mit Diversität und Pluralität. Die Beiträge geben darauf keine Antwort, aber sie zeigen die ganze Palette an Graustufen, die es schon in der Konfessionslandschaft des Alten Reiches gab. Der Band sei also jenen Schwarzweißmalern empfohlen, die so gerne aus der heutigen Komplexität in die vermeintlich einfachere und eindeutigere Ge­schichte fliehen. C. Hoffmann formuliert es so: Auch in der Frühen Neuzeit mussten die Akteure den Umgang mit Pluralität in den eigenen Reihen und in den benachbarten Häusern und Institutionen »durchaus erst lernen« (198).