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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

788–791

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Müntzer, Thomas

Titel/Untertitel:

Schriften, Manuskripte und Notizen. Bearb. u. hrsg. v. A. Kohnle u. E. Wolgast unter Mitwirkung v. V. Arslanov, A. Bartmuß u. Ch. Haustein.

Verlag:

Leipzig: Sächsische Akademie der Wissenschaften, in Kommission bei der Evangelischen Verlagsanstalt 2017. XXIV, 546 S. = Thomas-Müntzer-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, I. Lw. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02202-1.

Rezensent:

Freilich verlieren derartige Petitessen, sobald man das ge­leistete großartige Ganze gebührend in Rechnung stellt, sogar noch ihr Fliegengewicht. Tatsächlich präsentiert dieser Band eine editoris

Als Thomas Müntzer am 27. Mai 1525 in Görmar bei Mühlhausen exekutiert wurde, stand er wahrscheinlich – sein exaktes Geburtsdatum ist nicht bekannt – im 36. Lebensjahr. Kaum weniger als 36 Jahre hat es gedauert, bis die erste ihm gewidmete Kritische Ge­samtausgabe, die allen editionswissenschaftlichen Ansprüchen un­eingeschränkt zu genügen vermag, mit dem jüngst vorgelegten Band zur Vollendung gelangte.
Dass die von Günther Franz besorgte, 1968 publizierte Müntzer-Ausgabe in vielerlei Hinsichten mangelhaft war, trat schon bald nach ihrem Erscheinen unübersehbar hervor. Im Vorfeld der divinatorisch auf das Jahr 1989 festgelegten Feier des 500. Geburtstages von Müntzer schmiedeten Siegfried Bräuer (1930–2018), Gottfried Seebaß (1937–2008) und Eike Wolgast (*1936) den Plan einer tadellosen dreibändigen Müntzer-Ausgabe, die über die damalige innerdeutsche Grenze hinweg dergestalt realisiert werden sollte, dass man die Edition der Schriften in Heidelberg, die Edition des Briefwechsels und der sonstigen Quellen hingegen in Leipzig ansiedelte. Dann freilich retardierten mancherlei widrige Lebensumstände die Gestaltwerdung des Projekts, und auch der Eindruck, dass »mit der deutschen Einheit [...] die Müntzer-Thematik ihre politische Brisanz und damit zunächst auch an Interesse« (VII) verlor, ist nicht von der Hand zu weisen. Immerhin konnten die »Quellen« (Bd. 3) anno 2004 und sechs Jahre später der »Briefwechsel« (Bd. 2) vorgelegt werden.
Der zuletzt erschienene erste Band, über dessen verwickelte Planungs- und Entstehungsgeschichte die Herausgeber Armin Kohnle und Eike Wolgast im »Vorwort« knappen Bericht erstatten, präsentiert Müntzers »Schriften, Manuskripte und Notizen«. Da die Wiedergabe der beiden 1523 bzw. 1524 erstellten Gottesdienstordnungen Deutsches Kirchenamt (1–187) und Deutsche Evangelische Messe (198–266) ziemlich genau die Hälfte des Bandes belegt, könnte es, formal betrachtet, so scheinen, als sei Müntzer ein theologisch dilettierender Berufsliturgiker gewesen. Tatsächlich steht die eminente reformationshistorische und näherhin kultusgeschichtliche Bedeutung dieser Schriften, deren höchst anspruchsvolle editionstechnische Umsetzung im Wesentlichen der Musikwissenschaftlerin Christine Haustein zu verdanken ist, außer Zweifel. Indessen kann dieser quantitative Befund nicht verdecken, dass das beherzte liturgische Engagement Müntzers mit seiner intensiven, eigenständigen, in sich geschlossenen theologischen Reflexion und religiösen Agitation in unlösbarem Zusammenhang steht. Das tritt in seiner programmatischen Abkehr von der römischen Messordnung ebenso hervor wie in den anderen theologischen Schriften, von denen insbesondere die sog. Fürstenpredigt, die er im Sommer 1524 vor Mitgliedern des kursächsischen Herrscherhauses hielt, sowie seine wenige Wochen später verfasste, direkt gegen Luther gerichtete polemische Kampfschrift Hochverursachte Schutzrede von pointierter positioneller Aussagekraft und reformationsdynamischer Erheblichkeit sind.
Die Herausgeber verteilten die insgesamt darzubietenden Texte auf fünf Abteilungen. Dabei folgen auf die »Schriften« zunächst »Manuskripte und Niederschriften« von jeweils nur wenigen Seiten. Diesbezüglich stellt der im November 1521, am Ende von Müntzers Wirken in der böhmischen Hauptstadt, entstandene Prager Sendbrief (411–440), mit dem er gegen das über ihn verhängte Kanzel- und Predigtverbot aufbegehrte, dadurch eine Ausnahme dar, dass er in vier sprachlich, teilweise auch inhaltlich bzw. argumentationsstrategisch unterschiedlichen Versionen überliefert ist, welche hier nacheinander mitgeteilt werden: als kürzere (A) und längere deutsche Fassung (B), ferner als fragmentarisch überlie-ferte tschechische, für die vorliegende Edition zusätzlich ins Deutsche zurückübersetzte Fassung (C) sowie schließlich in lateinischer Sprachgestalt (D).
Die Überschrift der dritten Abteilung »Predigten, exegetische und theologische Aufzeichnungen und Notizen« lässt unschwer erkennen, dass hier recht divergente Textsorten von übrigens durchweg geringem Umfang zusammengefügt wurden, die aber gerade in ihrer elliptischen Form aufschlussreich und hermeneutisch herausfordernd sind. So stehen kurze, lateinisch verfasste Predigten und Predigtentwürfe neben knappen Notizen zu Bibelversen und theologischen Sachthemen, Exzerpte aus dem Propheten Amos und der Basiliusregel neben exegetischen Belegsicherungen, ein Kollektengebet zu Mariae Himmelfahrt neben dem siebenstrophigen, in seiner Verfasserschaft nicht gänzlich gesicherten Hymnus Von dem Nachtmahl des Herrn Christi (465–468).
»Sonstige Aufzeichnungen und Notizen«, die weder exegetischen noch theologischen Charakter tragen, versammelt die vierte Abteilung. Darunter fallen beispielsweise verschiedene im Frühjahr 1521 erstellte Bücherlisten, ein zu Platon ausgefertigtes Schriftenverzeichnis, knappe Notizen zum antiken Mythos oder das lediglich sieben Zeilen füllende lateinische Konzept eines Briefanfangs, das eigentlich in Bd. 2 dieser Ausgabe besser beheimatet wäre. Als Fremdtext ist außerdem ein von dem in Orlamünde wirkenden Prediger Konrad Glitzsch 1519 ausgestellter Auftragszettel für Müntzer hinzugefügt.
Die fünfte Abteilung bietet »Randglossen« von sehr unterschiedlicher Art, nämlich einerseits die in ihrer Authentizität nicht gesicherten, nur wenige Zeilen umfassenden Eintragungen in die von Faber Stapulensis 1513 herausgegebene Sammlung Liber trium virorum et trium spiritualium virginum, andererseits die recht um­fangreichen handschriftlichen Marginalien, die Müntzer in Schriften von Cyprian und Tertullian hinterlassen hat und die ein intensives Studium dieser altkirchlichen Texte dokumentieren.
Die fortlaufend durchgezählten 40 Texteinheiten des Bandes stammen durchweg aus dem letzten Lebensjahrzehnt Müntzers. Soweit es möglich war, sind sie innerhalb der fünf Abteilungen jeweils chronologisch geordnet. Der überlieferte Textbestand wird diplomatisch getreu wiedergegeben; die Texteingriffe der Herausgeber und Bearbeiter beschränken sich auf die nur selten notwendig werdende, durch eckige Klammern kenntlich gemachte Einfügung von Satzzeichen, die Auflösung von Abbreviaturen sowie die E infügung von Absätzen in längeren Textteilen. Editions- und satztechnisch gleichermaßen anspruchsvoll ist die Beigabe eines dreifachen Apparats, der nach textkritischen Notizen, Marginaliendarbietung und Sachkommentaren unterschieden ist. Dabei soll ausdrücklich begrüßt sein, dass sich die Kommentare mit dem Nachweis biblischer und anderer Zitate sowie mit gelegentlichen Worterklärungen bescheiden und damit die künftige Müntzerforschung nicht regulieren, sondern erleichtern wollen. Jeder der 40 Einheiten geht eine knappe, sachkundige Einleitung voran, in der die Genese und Überlieferung des gebotenen Textes beschrieben und bibliographische Hinweise mitgeteilt werden. Die detaillierte Registrierung aller Bibelstellen (521–540) sowie der historischen Personen- und Ortsnamen (541–546) vermag die Nutzbarkeit des Bandes erheblich zu steigern.
Bedauern mag man allenfalls, dass sich die Gliederung der edierten Müntzer-Texte in fünf Abteilungen nur im Inhaltsverzeichnis, jedoch nicht in der Abfolge der nummerisch durchgezählten Quelleneinheiten findet. Auch hätte man gerne erfahren, welchem Bearbeiter jeweils die sachkundige Einleitung und vorzügliche editorische Darbietung eines Textes zu danken ist.