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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

786–788

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Hamann, Matthias

Titel/Untertitel:

Der Liber Ordinarius Hallensis 1532. Liturgische Reformen am Neuen Stift in Halle an der Saale unter Albrecht Kardinal von Brandenburg.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2014. 814 S. m. Abb. = Jerusalemer Theologisches Forum, 27. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-402-11028-7.

Rezensent:

Martha Maria Nooke

Einen Liber Ordinarius nannte man im Mittelalter jenes liturgische Buch, das den gottesdienstlichen Vollzug einer Kirche regelte und das als eigenes liturgisches Zeremonialbuch nach der Vereinheit-lichung der Liturgie infolge der tridentinischen Messreform seine Bedeutung verlor. Die Untersuchung von Matthias Hamann, die 2010/11 von der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt als Dissertation angenommen wurde, ist einzuordnen in eine umfangreichere Beschäftigung mit diesen liturgischen Regelwerken vor allem von Seiten römisch-katholischer Liturgiewissenschaft, aber auch der angrenzenden historischen Wissenschaften und stellt einen Beitrag zur Liturgiegeschichte Mitteldeutschlands dar.
H. bietet in seiner Studie zunächst eine umfangreiche Untersuchung und Kontextualisierung (59–464) des Liber Ordinarius Hallensis von 1532, den Albrecht von Brandenburg für das 1520 gegründete Neue Stift in Halle erarbeiten ließ und der verschiedene liturgische Anordnungen und Rubriken für Messe und Stundengebete enthält, und macht dann die Handschrift, die sich selbst als »Breviarius gloriose et prestantissime« bezeichnet, erstmals durch eine vollständige Edition zugänglich.
Bekanntlich konkurrierten Halle und die kursächsische Residenzstadt Wittenberg Anfang des 16. Jh.s um Macht und Ansehen im Reich, was sich augenfällig in den Reliquiensammlungen von Friedrich dem Weisen und Albrecht von Brandenburg als Herrschaftsrepräsentation manifestierte. Die Sammlung Albrechts von Brandenburg, die nach Gründung des Neuen Stifts dorthin überführt wurde, war im Vergleich mit der Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen, die bis 1522 in der Wittenberger Schlosskirche (der Kirche des Allerheiligenstifts) gezeigt wurde, zunächst eher bescheiden, übertraf ihr Vorbild dann aber an Fülle und Bedeutung.
Die erste Präsentation des Halleschen Heiltums 1520 entzün-dete den bissigen Spott der Reformatoren und Luther wetterte bekanntlich mehrfach gegen den »Abgott von Halle«. Die Anweisung zur Inszenierung dieser Reliquiensammlung findet sich im nun erstmals umfangreich von H. untersuchten Liber Ordinarius von 1532, in dem akribisch notiert wird, an welchen Tagen und welchen Heiligenfesten welche Reliquien aus dem Heiltum gezeigt werden. H. legt dar, dass die Regelung des liturgischen Lebens in Halle von 1532 in das Gerangel mit Wittenberg und in die Auseinandersetzung mit der sich von Wittenberg aus durchsetzenden Reformationsbewegung eingeordnet werden muss.
Einleitend wird nach einer buchwissenschaftlichen Beschreibung der Handschrift (60–72) und Zuordnung zu Albrecht von Brandenburg als »Mentor des Liber Ordinarius« (72–89) die Ge­schichte des Neuen Stifts (90–115) nachgezeichnet. Aufschlussreich ist die Einzeichnung von Albrechts Liturgieverständnis in die Auseinandersetzungen um mittelalterlichen Kult und reformatorische Kritik. H. kann nachweisen, dass die von Albrecht von Brandenburg fürs Neue Stift in Auftrag gegebene Handschrift als Reaktion auf die reformatorische Kritik am mittelalterlichen Got­tesdienst und auf die Wittenberger Messreform zu verstehen ist. Für den Kardinal bergen die »Zeremonien als Außenseite der Liturgie« das geistliche Potential, die innere Anteilnahme der Gläubigen, vornehmlich der Ungebildeten, an der Liturgiefeier zu ermöglichen (85). Damit wende er sich gegen die reformatorische Konzentration der Messe auf das Wort und betone die Funktion der Zeremonien neben dem Wort.
Der Liber Ordinarius erscheint H. damit »als Teil eines umfassenden Reformprojektes in Halle« (89) und verfolge einen doppelten Zweck, nämlich auf die reformatorische Kritik zu reagieren, dabei aber die kirchliche Tradition zu wahren. Einen Beleg erkennt H. z. B. darin, dass Albrecht von Mainz Luther auf dessen Kritik an der Halleschen Reliquienpräsentation am 21. Dezember 1521 antwortete, »dass die Ursache für seine Beschwerde – also der Ablass – bereits abgestellt worden sei« (97). H. schlussfolgert nun aber recht spekulativ: »So hatte wohl der Protest des Reformators dazu geführt, die Art und Weise der Heiltumsweisungen zu ändern, auch wenn nicht belegt ist, worin diese Veränderungen bestanden haben« (ebd.).
Als liturgische Quellen des Neuen Stifts (117–139) erhebt H. zwei liturgische Haupttraditionen, die im Liber Ordinarius Hallensis verarbeitet sind. Neben der altehrwürdigen Liturgie der Magdeburger Kathedralkirche als »Haupttraditionsstrom« hatte auch das Wittenberger Allerheiligenstift »eine gewisse Vorbildfunktion« bei der Errichtung des Neuen Stifts übernommen (121). Als Beleg führt H. die Anfrage Albrechts von Brandenburgs aus dem Jahr 1519 auf, man möge ihm die Zeremonialbücher und Statuten des Wittenberger Stifts überlassen. Mit der Feststellung des Wittenberger Einflusses korrigiert H. den bisherigen Forschungsstand, der im Liber Ordinarius Hallensis weitgehend eine Kopie des Magdeburger Ordinariums erkannte. Worin sich dieser Einfluss niederschlägt, wird aber nicht weiter profiliert.
Das Kapitel zur Stiftskirche (141–212) bietet eine detailgesättigte Beschreibung der Architektur und Ausstattung der Stiftskirche als »Aufbewahrungsort des Hallischen Heiltums« (142), die aus den Beschreibungen des Liber Ordinarius erhoben bzw. mit den dortigen Anweisungen zusammengebracht wird und als Hintergrund für das in den folgenden Kapiteln beschriebene Prozessionswesen dient. Hier entwickelt H. eine neue These zum Konzept der Grablege Albrechts von Mainz, deren originärer Charakter in der Verbindung von Hochaltar (Reliquienschrein), Heiligengrab (Alexanderschrein) und Grablege des Stifters liege (158–168).
Die liturgietheoretische Untersuchung des Prozessionswesens (213–302) begibt sich auf die »Suche nach einem Liturgieverständnis am Neuen Stift in Halle« (218), das den Grundsätzen mittelalterlicher Liturgieallegorese verpflichtet bleibt. Anhand von drei mittelalterlichen Liturgieerklärungen (Rupert von Deutz, Johannes Beleth, Wilhelm Durandus) soll das Profil der Liturgieallegoresen ermittelt werden. Die Funktion des Prozessionswesens für die mittelalterliche Frömmigkeit erhellt sich aus dem Zusammenspiel von Gedächtniskult, liturgischer Ordnung und Kirchenarchitektur. »Be­sonders Prozessionen als geordnete Bewegungen in einem definierten liturgischen Raum machen diesen Zusammenhang von künstlichem Gedächtnis, Allegorie und Memoria deutlich«, indem sie eine »Heilstopographie« markieren, »mittels derer die Prozessionsteilnehmer durch loci geführt« und imagines als »Ansatzpunkte für eine Mnemotektur« eingebunden werden (301 f.).
Anschließend wird das Prozessionswesen am Neuen Stift (303–460), wie es idealtypisch im Liber Ordinarius festgeschrieben ist, in einem Zweischritt ausführlich dargelegt und ins Verhältnis zu den allegorischen Liturgieerklärungen und anderen halleschen Quellen gesetzt, um Veränderungen und Akzentuierungen im Prozes-sionswesens Albrechts herauszuarbeiten. Die eingehende Beschreibung und Kommentierung der liturgischen Anweisungen bieten eine materialreiche Quelle mittelalterlicher Frömmigkeitspraxis.
H.s Hauptthese, dass es sich bei dem untersuchten Liber Ordinarius um das »Dokument einer auf reformatorische Kritik eingehenden katholischen Reform« (461) handelt und diesbezügliche Anpassungen der Halleschen Liturgie vorgenommen wurden, ge­rät hierbei allerdings mitunter aus dem Blick.
Neuere reformationsgeschichtliche Literatur findet bedauerlicherweise keine Aufnahme ins Quellen- und Literaturverzeichnis (19–58), und die spärlichen Luther-Verweise werden durchweg aus der Sekundärliteratur erhoben. Auch die Bedeutung des Neuen Stifts über Halle hinaus wird kaum beleuchtet. Der Verzicht auf eine weiterführende Untersuchung des historischen Wirkumfeldes ist dem Zuschnitt einer liturgiehistorischen Behandlung und der Editionsarbeit geschuldet. Zahlreiche farbige Abbildungen (465–493), Textbeigaben (494–510) und Initien-Register (511–520) dienen der Illustration und weiteren Erschließung des Bandes.
Die Edition des Liber Ordinarius (521–814) versteht sich als »vornehmliche Transliteration« (522) und bildet den zweiten Teil des Bandes. Die Schriftgröße gegenüber dem Untersuchungsteil ist deutlich verringert. Da unterschiedliche Druckfarben in Grauabstufungen und Initialen, Sonderzeichen, spätere Nachträge und Zusätze jeweils in anderer Schriftgröße bzw. -type, Kursiv- bzw. Fettdruck wiedergegeben werden, erscheint der Satzspiegel insgesamt recht unruhig. Notationen werden nicht abgebildet, sondern bloß erwähnt (»mit Neumen versehen«). Auf Querverweise auf Übersetzungen einzelner Textabschnitte wird verzichtet (z. B. Vorrede 550,1–29 – 73 f.; Läuteordnung 552,11–25 – 114 f.). Zudem begegnen widersprüchliche Textreferenzen (z. B. 552,12: »Cui prius« – 144: »Cui primum«).
Dies alles schmälert nicht H.s Leistung, durch die Erhebung des Liber Ordinarius Hallensis aus dem Bibliotheksarchiv und dessen Untersuchung sowie Kontextualisierung spätmittelalterliche Tradition und reformatorische Kritik in liturgischen Büchern zu präzisieren und zu verifizieren. H. liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsgeschichte und wird das weitere Gespräch über die Wechselbeziehung von Liturgiegeschichte und Kirchengeschichte stimulieren.