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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

782–784

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene

Titel/Untertitel:

Reformation. Zentren – Akteure – Ereignisse.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. 308 S. Geb. EUR 40,00. ISBN 978-3-7887-3032-1.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Der Titel des vorliegenden Büchleins macht neugierig: »Reformation« auf 276 Seiten? Dass wir hier keines der im Umfeld des Jubeljahres 2017 so zahlreich erschienenen, teils uninformierten Büchlein über das 16. Jh. in Händen halten, lässt schon der Verfasser-name hoffen. Und wirklich hat Irene Dingel es geschafft, wissenschaftliche Genauigkeit und populärwissenschaftliche Lesbarkeit in einen Ausgleich zu bringen. In der ersten Planung sollte dieses Werk als kleines Lesebuch erscheinen, der Kulanz des Verlages ist es zu verdanken, dass auch 276 Seiten noch als »Lese-Buch« anerkannt wurden (vgl. 9). Wie der Untertitel »Zentren – Akteure – Ereignisse« schon vermuten lässt, bietet das Buch weniger eine fortlaufende systematische Darstellung der Reformation, sondern setzt vielmehr auf eine perspektivisch ausgerichtete Art der Darstellung (evtl. fehlt deshalb auch jegliche Zählung der Kapitel). Der Reiz liegt eindeutig in der Möglichkeit, selektiv Schwerpunkte zu setzen, die Gefahr besteht in der mangelnden Stringenz der Darstellung. Hier liegen denn auch einige Anfragen an das ansonsten sehr gelungene Werk begründet, wie sich zeigen wird.
Zur besseren Lesbarkeit werden die wissenschaftlichen Diskussionen weitgehend ausgespart, Anmerkungen beschränken sich auf die nötigsten Verweise. Hilfreich wären hier Literaturempfehlungen zum Ende gewesen. Das Quellen- und Literaturverzeichnis bietet das nur eingeschränkt auf 19 Seiten, da die verzeichneten Titel von sehr unterschiedlichem Gewicht sind und keine systematische Auswahl darstellen (z. B. finden sich 27 Titel der Autorin). Neben den sinnvollerweise gebotenen Registern zu Orten und Namen findet sich ein Bibelstellenregister, dessen Funktion sich nicht recht erschließt. Dass es in einem »Lese-Buch« kein Sachregis-ter gibt, ist verständlich, es hätte aber die Erschließung durchaus erleichtert.
Lesbar ist das Buch innerhalb der Kapitel in jedem Fall. Dem breiten Publikum werden zudem einige effektheischende Informationen geboten: beispielsweise, dass Zwinglis Leiche noch gevierteilt wurde (87) oder dass der Kaiser seinen Hofstaat samt Frau verpfändete (21).
Zeitlich umfasst das Buch das Reformationsjahrhundert, mit einigen Hinweisen zum Mittelalter und einigen Ausblicken. Das Ende der Reformation wird »situationsgebunden und unter Berücksichtigung der verschiedenen europäischen Kontexte« (12) gefasst. Das führt freilich zu einem Ausfransen zum Ende hin. Während der Prozess der lutherischen und reformierten Bekenntnisbildung kaum dargestellt wird, überrascht die Fortführung in Frankreich bis zum Edikt von Nantes.
Grob gliedert sich das Werk in: »Hintergründe – Die Reforma-tion – Ausstrahlung«. Das einleitende Kapitel bietet eine gute Einführung in die politischen und religiösen Verhältnisse zum Beginn der Re­formation (15–44), bei dem sich sicherlich einige Schwerpunkte anders hätten legen lassen können (z. B. gerät die Darstellung der kirchlichen Frömmigkeit nur zur Negativfolie). Es bietet auch positionierte Klärungen: z. B., dass nicht alles, was als »Vorreformatoren« bezeichnet wird, wirklich diesen Titel verdient hat (37). Das Schlusskapitel »Ausstrahlung« mit dem Untertitel »Europäische Dimensionen« stellt lediglich eine nach Ländern geordnete Sammlung von »Was noch geschah« dar und endet relativ abrupt mit einem Abschnitt zu »Spanien und Italien«.
Innerhalb des Hauptkapitels »Die Reformation. Zentren – Ak­teure – Ereignisse« tauchen die wichtigen Zentren (Wittenberg, Zürich, Straßburg, Genf) in eigenen Kapiteln auf. Freilich gerät das Kapitel zu Genf, das sehr kenntnisreich und lesbar geschrieben ist, zu einem unverbundenen Anhang, da es den Abschluss des Hauptteils bildet. Einzelne Themen sind hier nicht gesondert aufgeführt und mit anderen »Zentren« verbunden, sondern werden innerhalb dieses Kapitels behandelt.
Ansonsten finden die »entscheidenden Akteure«, die D. eingangs angekündigt hatte, ihren Platz jeweils innerhalb der Darstellung der »großen Zentren«. Die ebenfalls angekündigten »ausschlaggebenden Ereignisse« tauchen in der Darstellung eher als Prozess auf, der anhand einzelner Themen dargestellt wird. Die Auswahl der behandelten Themenkapitel ist gut gewählt.
In der Darstellung der Reformation in Wittenberg stellt D. die Bedeutung Melanchthons heraus. Ob sein Wirken auf Europa gesehen das Luthers »bei weitem« (48) überragte, bedarf sicherlich der Diskussion, doch ist es erfreulich, dass Melanchthon in seiner Eigenständigkeit in den Blick gerät, nicht nur als Nebendarsteller Luthers. Zu dem von D. schön identifizierten »Reformatorennetzwerk« (48) in Wittenberg wären noch ein paar Bemerkungen interessant gewesen.
Sinnvollerweise schließt sich an dieses Kapitel die Darstellung der »Ausbreitung der Reformation – Wege und Medien« an, denn die Frage drängt sich auf, wie aus dieser Keimzelle der große Bau der Reformation werden konnte (vgl. 77). Damit wird stillschweigend und richtig der besondere Rang Wittenbergs für alle weitere Reformation festgestellt. Folgerichtig schließt sich die Darstellung der »Reformation in Zürich« an, ebenso wie die thematischen Kapitel zu »Kontroversen und Abgrenzungen« und dem »Reformatorischen Dissent«. Zusammen mit dem Kapitel zur »Reformation in Straßburg« ist damit die Vielfalt reformatorischer Strömungen abgeschritten (bis auf Genf [s. o.]). Diese Darstellung beginnt klug gewählt mit der »Wittenberger Bewegung (1521/22)« (100), denn hier bereits werden die ersten Haarrisse der reformatorischen Be­wegung deutlich. Die Auswahl der Kontroversen muss natürlich unvollständig bleiben. Davon streng unterschieden werden die »dissentierende[n] Strömungen« (120). Mit dieser Bezeichnung versucht D. die belasteten älteren Begrifflichkeiten zu umschiffen, sie meint aber die theologisch klar abgrenzbaren, als Gruppen identifizierbaren, aber vom Mainstream der Reformation abgesonderten Gruppen der Täufer, der Spiritualisten und der Antitrinitarier. Das Problem, dass diese Bewegungen teilweise ineinander übergehen, bisweilen gar keine Gruppe bilden (z. B. die Antitrinitarier), wird durch die Neubenennung allerdings nicht gelöst. Dass die Bildung für die Reformation »in erster Linie theologisch motiviert« (167) war, stellt das entsprechende Kapitel luzide dar.
Eine Einheit scheinen die Kapitel »Reformation und Reichspo-litik«, »Ringen um Konsens« und »Krieg und Frieden« zu bilden, beschäftigen sie sich doch mit dem Konsolidierungsprozess der Reformation nach innen und außen im corpus christianum des Reiches (vgl. 195). Die wechselseitige Beeinflussung von »Macht und Gewalt, Krieg und Frieden« (206) und der Reformation werden in diesem Kapitel-Block nachvollziehbar illustriert.
Insgesamt legt D. hier ein Werk vor, das den Einstieg in die Reformation zuverlässig und kenntnisreich sowie leicht zugänglich ermöglicht. Darin hebt es sich von vielen Beiträgen zum Jubeljahr ab. Und letztlich zeigt das Werk in der Buntheit des Inhaltsverzeichnisses deutlich den Reiz eines perspektivischen Zugangs, der auch Blicke auf vermeintlich Randständiges ermöglicht. Im inneren Zusammenhang der einzelnen thematischen Kapitel stellen sich für den Leser ohne Vorkenntnisse jedenfalls einige Schwierigkeiten. Zur weiteren Vertiefung hätte methodisch noch angeregt werden können, vielleicht reicht es jedoch auch, sich von der spürbaren Begeisterung der Verfasserin für die Reformation auf diesen 276 Seiten anstecken zu lassen.