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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

779–782

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian, u. Jan-Heiner Tück [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Martin Luther im Widerstreit der Konfessionen. Historische und theologische Perspektiven.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2017. 536 S. Geb. EUR 24,99. ISBN 978-3-451-37652-8.

Rezensent:

Daniela Blum

Selbst in der Fülle der aktuellen Luther-Veröffentlichungen sticht diese Dokumentation einer Wiener Tagung hervor. Der Band ist konsequent ökumenisch verantwortet, mit Beiträgen prominenter Theologen und Theologinnen besetzt und fragt nach der Bedeutung des Reformators in gegenwärtigen theologischen Kontroversen. Das Buch gliedert sich in vier Rubriken – historische und systematische Schwerpunkte, Judentum und Islam in der Sicht Martin Luthers sowie Luther in der Sicht der Kirchen.
Um von hinten anzufangen: Der österreichisch-lutherische Bischof M. Bünker und der römische Kardinal K. Koch präsentieren die Perspektiven der Kirchenleitungen. Sie kommen aber über die Formulierung der Dankbarkeit für das bisher Geleistete und die Ermunterung zu weiteren Verständigungen und Zielformulierungen in der Ökumene nicht hinaus. Die Beiträge von H. Lehmann und K.-J. Kuschel begreifen Luthers Aussagen zu Juden und Muslimen bzw. Türken als »Auftrag zur kritisch-selbstkritischen Bearbeitung heute« (Kuschel, 444). Während Lehmann die Forschung zu Luthers Judenhass seit 1945 präsentiert, kontextualisiert Kuschel Luthers Argumente gegen die Türken in der Biographie des Reformators. Beide aber kritisieren die EKD, die lange um eine Haltung zu Luthers Judenhass gerungen hat und bis in aktuellste Positionspapiere hinein mit der Frage hadert, wie Christen als Christen partnerschaftlich mit Muslimen umgehen können.
Die unter den Schlagworten der historischen und systematischen Brennpunkte versammelten Beiträge sind weniger ihres Inhalts wegen interessant. Die meisten Autoren präsentieren Positionen, die sie bereits anderswo veröffentlicht haben. Wirklich spannend ist, wie die Perspektiven katholischer und evangelischer Theologen konsequent aufeinander folgen. Auf diese Weise werden erstaunliche ökumenische Kohärenzlinien deutlich, in anderen Fragen prallen völlig unterschiedliche Perspektiven und Traditionen aufeinander. Beginnen wir bei den Kohärenzen. V. Leppin versteht Luther als vielgestaltiges Phänomen, das nicht auf einen theologischen Strang festgelegt werden kann. In seinem Beitrag diskutiert er die »Doppelgesichtigkeit« (38) Luthers als mystischen Erbauungsschriftsteller einerseits und umfassenden Kämpfer gegen die römische Hierarchie andererseits. T. Prügl ergänzt, dass Luther sich der Reformrhetorik bediente, aber einen grundsätzlichen Kampf gegen das Papsttum führte. Die konziliaristische Karte spielte er aus, um die Humanisten für sich zu gewinnen. M. Wriedt und K. Unterburger diskutieren die Rezeption Luthers in den frühneuzeitlichen Konfessionskirchen. Wriedt zeigt, wie Luther in der evangelischen Konfessionskultur – ausgehend von seiner Selbststilisierung als letzte Instanz in der Auslegung der Schrift – identitätsstiftende Potenz zugeschrieben wurde, vor allem in den normativen Quellen und Predigtpostillen. Er plädiert aber auch für deskriptive Texte als Quellen zur Erfassung der lutherischen Identitätsbildung. In der katholischen Konfessionskultur etablierten sich nach dem Tridentinum die Kontrolle des Klerus sowie die Intellektualisierung und Normierung der Glaubenspraxis bei gleichzeitiger Affektisierung und Versinnlichung der Frömmigkeitspraxis. Unterburger ist wichtig, dass die der katholischen Kultur zugeschriebene Sinnlichkeit ebenfalls den Boden für die Aufklärung bereitete.
Auch in systematischen Fragen ergeben sich in diesem Band fruchtbare Gespräche. In der Ekklesiologie ergänzen sich die Beiträge von U. Barth und J. Rahner – Letztere ist übrigens die einzige Theologin des Bandes. Barth stellt Luthers ekklesiologisches Re­formprogramm dar: das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, das Modell freier Glaubenskommunikation und die Vorgängigkeit des Christusglaubens gegenüber dem Kirchenbezug. Rahner sieht in dieser Ekklesiologie eine »gefährliche Erinnerung« (353), die die Identität der Katholiken in Frage stelle und ein funktionales Amtsverständnis festhalte. Das wirksame Subjekt jeder Ekklesiologie aber sei Gott selbst, ruft Rahner in Erinnerung. Auch in der lutherischen Anthropologie sind sich C. Danz und H. Hoping einig: Christliche Freiheit und unfreier Wille gehören zusammen. Lu­ther, so Danz, konzentrierte den Freiheitsgedanken ganz auf re­ligiöse Dimensionen. Er verstand den Glauben als ein Sich-Verstehen menschlicher Freiheit und als Vollzug, der vom Menschen nicht selbst hergestellt werden kann. Hoping befürwortet diese theologischen Konzepte, gerade den unfreien Willen aufgrund des radikalen Verständnisses der Sünde: Die falsche Grundausrichtung seines Willens kann der Mensch selbst nicht ändern. Am Ende verweist Hoping auf die Vertreter der »New Perspektives on Paul«, die betonen, dass der Sünder die Rechtfertigung an sich geschehen lassen muss: Dem Moment der Passivität folgt also ein Moment der Aktivität. Auch E. Schockenhoff argumentiert, dass menschliches Tätigsein immer als Mitvollzug in der Schöpfung konzipiert ist und sich daher Selbständigkeit und Abhängigkeit von Gott nicht als Gegensätze behaupten lassen.
Damit sind wir bei den Konflikten, die sich zwischen den Beiträgern auftun, gerade in der Frage der Rechtfertigung und der Aktivität des Menschen. U. H. J. Körtner kontrastiert nämlich Luthers Rechtfertigungsbegriff als unverfügbare und äußere Ge­rechtsprechung und -machung des Sünders mit dem katholischen Verständnis der Rechtfertigung als sakramental vermitteltem Teil-element im Heilsprozess. Er kritisiert an der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung, dass die Konfessionen sich weder über die Stellung des Rechtfertigungsartikels im Gesamt des theologischen Gebäudes geeinigt haben noch die bleibende Sündhaftigkeit des Gerechtfertigten gemäß der lutherischen Überzeugung ernst ge­nommen haben. Dagegen verweist J.-H. Tück wie Hoping und Schockenhoff auf die Beteiligung beider, Christi und des Sünders, im sacrum commercium: Luther habe zwar ein »personal-innerliches Verständnis von Erlösung« (275) entworfen, der Sünder aber muss sich befreien lassen. B. Stubenrauch wiederum bringt die Rechtfertigung ins Gespräch mit anderen Theologoumena der mystischen und patristischen Tradition, etwa der Vergöttlichung als soteriologischer Qualität. Am Ende fragt er vorsichtig, ob in der Rechtfer-tigung wirklich das entscheidend Andere liegt: »Oder hat die Re-formation ungleich mehr aus kultur- und mentalitätsgeschicht-lichen denn aus theologischen Gründen ihren Weg genommen?« (210)
Dagegen bestehen – zweitens – N. Slenczka und F.-W. Graf auf der Neuartigkeit lutherischer Theologie. Slenczka sieht nicht in der Lehre von der Rechtfertigung das zentrale Moment lutherischer Theologie, sondern in ihrem neuen Wirklichkeitsverständnis. Am Beispiel des Artikels der Höllenfahrt Christi analysiert er, dass dieser Glaubenssatz keine theologische Information enthalte, aber den performativen Charakter des biblischen Wortes zeige: Diese Rede verändert das Selbstbewusstsein des Menschen. Mehr noch, die Reformation entdeckt und definiert den Menschen als Selbstverständnis. Graf hingegen fragt kritisch, ob man denn im Reformationsjubiläum kein evangelisches Profil mehr haben wolle (374). Luther habe die Idee christlicher Freiheit gegen die Kirche und eine religiöse Individualisierung eingebracht; in einer pluralen Gesellschaft heute seien allerdings viele Deutungen dieser christlichen Freiheit möglich.
Kontrastreich gegenüber stehen sich – drittens – schließlich die beiden Bibliker J. Wolff und L. Schwienhorst-Schönberger. Wolff vergleicht Luthers Psalmenvorlesungen und benennt am Beispiel von Ps 22,19 acht Eigenarten seiner Exegese. Hierin sieht Wolff einen Riss zu allem Vorherigen: »Als Schriftausleger erfindet Luther mit einer neuen Exegese eine neue negative theologia crucis und ein neues Kirchenverständnis« (151). Schwienhorst-Schönberger hingegen analysiert, dass der Reformator sich in Konflikten formal nicht anders verhielt, als er es dem Papst vorwarf: Luther stellte an die Stelle des kirchlichen Dogmas seine eigene Bibelauslegung. Der katholische Alttestamentler weist außerdem mit Ignatius von Loyola darauf hin, dass die von Luther formulierte und von Slenczka ausgedeutete Klarheit der Schrift als innerer Evidenzerfahrung noch kein hinreichendes Kriterium für eine richtige Auslegung sein könne.
Es fehlt noch ein Wort zu S. Lewitscharoffs Eingangsbeitrag zum Sprachereignis Luther. Der Beitrag liest sich für die Historikerin bisweilen verstörend und eröffnet doch in dieser irritierenden Sprachlichkeit einen aktuellen Blick auf Luthers Sprache – vom »Wortfex« (16) und »Dickkopf« (14) Luther ist zu lesen, dessen Bibelübersetzung »würzig, […] aber auch zart« sei, mit einem »Sinn für die schwarzen Löcher« (21). Ein letzter Leseeindruck: Nicht nur die historisch arbeitenden, sondern gerade auch die systematischen Theologen diskutieren Luthers Theologie noch immer in ihrer Bestimmung zum Spätmittelalter: War seine Theologie nun eine Fortschreibung spätmittelalterlicher Theologie, eine Innovation, ein qualitativer Sprung, eine Transformation, ein Riss, ein Bruch? Alle Positionen finden sich in diesem Band und verdeutlichen, dass diese Frage wirklich nicht weiterführt.