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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

772–774

Kategorie:

Kirchengeschichte: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Chadwick, Henry

Titel/Untertitel:

Selected Writings. Ed. and introduced by W. G. Rusch. Foreword by R. Williams.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2017. XXXII, 347 S. Geb. US$ 60,00. ISBN 978-0-8028-7277-7.

Rezensent:

Wolfram Kinzig

Superlative im Zusammenhang mit Gelehrsamkeit (etwa: »Chadwick war neben Harnack der bedeutendste Patristiker des 20. Jahrhunderts.«) sind immer gefährlich und in jedem Fall höchst subjektiv. Doch ganz sicher gilt: Henry Chadwick (1920–2008) hat zur Geschichte der Alten Kirche Beiträge geleistet, die das Fach grundlegend geprägt haben. Wer diese Geschichte studiert, stößt an allen Ecken und Enden auf den Namen des britischen Gelehrten. Die Äußerungen derer, die ihn darüber hinaus persönlich kennen-lernen durften, lauteten hinterher eigentlich immer gleich: Seine umfassende Bildung war furchteinflößend, sein Charisma in der Begegnung begeisternd und inspirierend. Sein Tod riss vor allem in der angelsächsischen Forschung eine tiefe Lücke, die nach meiner Einschätzung bis heute nicht geschlossen werden konnte.
Umso willkommener ist diese Neuausgabe wichtiger Vorträge und Aufsätze über eine Zeitspanne von fast fünfzig Jahren (1957–2006) durch William G. Rusch, den Professor (Adjunct) of Lutheran Studies an der Yale Divinity School, der auch eine Einleitung mit knappen Informationen zu Leben und Werk Ch.s und mit Inhaltsangaben der abgedruckten Stücke beigesteuert hat. Viele dieser Studien stammen aus schwer greifbaren Festschriften oder Gelegenheitspublikationen und sind nicht nur Forschungsbeiträge im engeren Sinn, sondern oft auch weiträumige tours d’horizon, die auf Vorträge vor kirchlichen und anderen Gremien zurückgehen.
Die hier versammelten Arbeiten machen einmal mehr deutlich, dass für Ch. die Erforschung der Geschichte der Alten Kirche die Parameter lieferte für die Beurteilung des kirchlichen Lebens der Gegenwart. Die methodische und theologische Prämisse, dass sich unser Kirchenverständnis an den Anfängen der Geschichte des Christentums zu orientieren habe, führte ihn zu einer (wohltemperierten) hochkirchlichen Ekklesiologie, die am besten in dem Aufsatz aus dem Jahr 1990 zu »Ministry and Tradition« zum Ausdruck kommt, der die Sammlung eröffnet. Hier berief sich Ch. (ohne den deutschen Patris-tiker beim Namen zu nennen) auf Harnacks drei »katholische« Normen apostolisches Amt (mit der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung als dessen Kern), trinitarisches Bekenntnis und B ibelkanon, die ihre endgültigen Ausformungen in nachaposto-lischer Zeit erreicht hätten, aber letztlich der Kirche von Christus selbst als dona data im Sinne von Eph 4 anvertraut worden seien (6). Im Bezug auf diese »Echtheitskriterien« (»criteria of authenticity«, 5) sei darum auch in der Gegenwart Einheitlichkeit geboten, während man in liturgischen Fragen flexibel verfahren könne.
Die Grundentscheidung, dass wahre Kirche sich auf Einigkeit in einigen wenigen, aber zentralen Grundnormen gründete (worin er sich dann übrigens von Harnack unterschied), ließ Ch. immer wieder das ökumenische Gespräch, vor allem mit Rom, suchen, weil er dachte, dass auf dieser Basis interkonfessionelle Verständigung möglich sein müsse. Sie hatte allerdings auch zur Folge, dass er sich mit der Einführung der Frauenordination im Jahre 1992 in der Church of England schwertat. An diesem Punkt zeigten sich am deutlichsten die Grenzen eines Verständnisses von Kirchengeschichte, welches aus der Betrachtung der Historie Normen für die Gestaltung der kirchlichen Gegenwart abzuleiten sucht.
Davon abgesehen war Ch.s historisches Wissen von einer Breite und Tiefe, wie man es heute kaum noch findet. Als ich ihn das erste Mal traf und er erfuhr, dass ich aus Mannheim stamme, überraschte er mich mit einem Exkurs über das Schwetzinger Schloss. Seine »Tischgespräche« an High Table in den Colleges, die er leitete (Christ Church in Oxford und Peterhouse in Cambridge), waren legendär und brachten ihm den Ruf eines »polymath« ein. Er publizierte nicht nur über patristische Themen, sondern äußerte sich auch zu anderen Epochen der Kirchengeschichte. So umfasste sein monographischer Beitrag zur »Oxford History of the Christian Church« (2003) die Zeit von den Anfängen bis zum Konzil von Florenz. Gleichzeitig hatte Theologie für ihn auch einen ästhetischen Aspekt. Darin kam seine musische Begabung zum Vorschein, hatte das Multitalent doch in seiner Jugend ein Musikstipendium in Cambridge erhalten. In dem hier erstmals veröffentlichten Vortrag »The Power of Music« etwa entwickelte er eine unbefangene »natürliche« Theologie, die auf der Anschauung der Schönheit und Ordnung des Kosmos basierte.
Im Mittelpunkt von Ch.s Denken und Schreiben standen jedoch die Entwicklung der patristischen Theologie und die Ausbildung der kirchlichen Strukturen und Frömmigkeitsformen im 4. und 5. Jh. So versammelt der vorliegende Band Untersuchungen zur Entwicklung der Trinitätslehre und der Christologie, zu den Ökumenischen Konzilien von Nizäa bis Chalkedon, zur Entstehung des Mönchtums und des Heiligenkults und zur Frage nach der Bedeutung und Ausgestaltung des kirchlichen Amtes. Zwei Beiträge be­schäftigen sich darüber hinaus mit der Auseinandersetzung zwischen Christentum und Heidentum in der Spätantike, ein weiterer mit der »Originalität frühchristlicher Ethik« (die er letztlich in dem Ruf zur Nachfolge Jesu sah).
Ch.s Leib- und Magentheologe war jedoch Augustin, zu dem er immer wieder zurückkehrte und der darum auch bei einem halben Dutzend Studien der »Selected Writings« im Zentrum steht. Hier findet man wieder die Ausführungen zu den seinerzeit von Johannes Divjak und François Dolbeau neu entdeckten Briefen und Predigten (1983 bzw. 1996), ferner einen Vortrag über das Verständnis des Priesteramts in den Confessiones, die Erklärung dafür, warum Augustin den Manichäismus so attraktiv fand, und schließlich Skizzen der augustinischen Lehre von der Providenz und dem Bö­sen sowie der Ethik.
Stets kam Ch. dabei mit wenigen Sätzen auf den Kern eines Problems. Die gelehrte Kontroverse, gar Polemik sucht man bei ihm vergebens, steile Thesen waren seine Sache nicht. Rowan Williams nennt ihn in seinem Vorwort zu Recht einen Ireniker. Ch. erzählte meist eine Geschichte, oder er umkreiste ein Thema, natürlich in erster Linie, um zu belehren und neue Einsichten zu vermitteln, aber daneben auch, um zu unterhalten. So war er ein Meister des Aperçus und besaß einen sehr britischen Sinn für milde Ironie: Die Ausgabe der Tübinger Theosophie durch Hartmut Erbse nannte er »a book as rare as the gold of Ophir« (311, Anm. 1). Die ambivalente Haltung von Mönchen und Nonnen gegenüber der verhassten »Welt« charakterisierte er (unter feiner literarischer Anspielung) folgendermaßen: »Monks and nuns withdraw from the madding crowd seeking entertainment – sex and violence in theatre or am­phitheatre – or transient power, wealth, and honour. Renounced bright lights could still pull even if despised« (43). Und über Popmusik schrieb er: »Among the merits of pop is the fact that it can provide good audible wallpaper as background to some other activ-ity such as writing an essay for a tutorial or driving a bus or erecting a new building« (154).
Es ist gut, wenn die Älteren unter uns mit diesem Band wieder einmal daran erinnert werden, welche hohen Maßstäbe Henry Ch.s Forschungen und seine Darstellungskunst gesetzt haben, und die Jüngeren diesen Ausnahmegelehrten (dessen Biographie unbedingt geschrieben werden müsste) neu entdecken können.
Einziger Wermutstropfen ist die nicht sehr sorgfältige Buchherstellung. Es gibt einige unglückliche Druckfehler: S. 153: »librettii«. S. 155: »justaposes«. Auf S. 69 oben müsste statt »Constantius« »Constantine« als Verfasser des Briefes an Arius stehen (Versehen bereits im Original). In der Liste der Erstveröffentlichungen fehlen in einigen Fällen die Seitenzahlen. Der Index ist lückenhaft.