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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

770–772

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stettler, Christian

Titel/Untertitel:

Das Endgericht bei Paulus. Framesemantische und exegetische Studien zur paulinischen Eschatologie und Soteriologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIX, 415 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 371. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-155007-2.

Rezensent:

Emmanuel L. Rehfeld

Pünktlich zum Reformationsjubiläum 2017 ist ein Buch erschienen, das klassisch reformatorische Lesarten der paulinischen Rede von »Gericht« und »Werken« problematisiert (17.42.249 f.257 f.265f. u. ö.). Der Autor, der Schweizer Pfarrer Christian Stettler, hat bereits mehrfach thematisch einschlägig publiziert (vgl. die vielen Selbstverweise). Bei dem hier zu besprechenden Werk handelt es sich um die überarbeitete Fassung seiner Zürcher Habilitationsschrift aus dem Jahr 2014. Sie umfasst neben fünf sehr unterschiedlich langen Kapiteln (Kapitel 2 wirkt sachlogisch verfrüht) diverse »Anhänge« (289–337) mit dem exegetischen Basismaterial (128 f.) in Form von additiven Inventarlisten sowie das Literaturverzeichnis und die für die Reihe üblichen Register.
Die von Anfang an erkennbare (C. S. Lewis-Zitate, VII), zu-gleich als Raster für die »Forschungsgeschichte« (1–47) fungierende Grund­these lautet: »Nach Paulus sind die Glaubenden dem Gericht nach den Werken nicht enthoben, vielmehr sind sie denselben Maßstäben unterworfen wie die übrige Menschheit« (276 = 287 u. ö.). Als Hauptbelegstelle dient Röm 2 (61–68.189–207.252–256 u. ö.). Die »Rechtfertigung im Endgericht« (!) geschieht S. zufolge »nicht aufgrund des vollkommenen Glaubensgehorsams oder aufgrund der durch Gottes Gnade gewirkten Werke, sondern aus Glauben im Sinne eines vertrauenden Sich-zu-eigen-Machens von Christi Heilswerk« (286). Darum sei »entscheidend […], ob jemand bis zum Schluss umkehrbereit war. Im Gericht zählt für die Frage des ewigen Lebens […], […] ob das ›Leben im Geist‹ – inklusive Umkehrbereitschaft! – bis zum Ende durchgehalten wurde« (277 = 287). Ohne Umkehr und Buße gebe es auch für sündige(nde) Christen »kein Heil« (276), da sie »im Endgericht aufgrund ihrer Werke gerettet und gerechtfertigt« würden (ebd.; man beachte die Spannung zu 286). S. betont: »Verharren in Sünde schließt auch Glaubende vom ewigen Heil aus« (266), meint aber: »Wie sich beides, Treue Gottes und Gefahr des Heilsverlusts, zueinander verhalten, lässt Paulus offen« (ebd.). Hier bemüht S. die Rede vom »paulinische[n] Paradox« (274–276), obwohl ausgerechnet Phil 2,12 f. ein klares Gefälle aufweist (»denn Gott …«). Nach S. droht allenthalben die »reale[] Gefahr des Abfalls« (266): »Wer nicht heilig, sondern in der Finsternis lebt, verfällt (auch als Christ!) der ›Rache‹ Gottes« (71 = 280). Das alles sei »konstitutiver Bestandteil des paulinischen Evangeliums« (281).
Nicht nur im Großen und Ganzen, auch in zahlreichen Einzelheiten wirft das Buch viele Fragen auf. Exemplarische Hinweise müssen hier freilich genügen.
Als schlechthin entscheidend erweist sich die Methodik (73–124). S. sieht sich einem auktorialen Ansatz verpflichtet (86 ff.), legt den Fokus aber auf das mutmaßliche historische Umfeld des Autors, nicht auf seine Texte, die im Übrigen keinesfalls »als Literatur interpretiert werden« dürften (90). Das »Instrumentarium« der Wahl liefert die »neuere Frame-Semantik, welche der Typus-Lehre von E. D. Hirsch weitgehend entspricht« (93). Für S. spielen assoziative Eintragungen (»Inferenzen«) die zentrale Rolle (114 f.128.142 f. u. ö.). Das Prinzip »kommunikativer Ökonomie« dank »maximaler Implizitheit« (121 u. ö.) verlange nach maximaler Rekonstruktion:
»Die briefimmanente, am unmittelbaren Briefkontext und an der Briefsituation ausgerichtete Exegese stellt nur einen Beitrag zum wirklichen Verständnis seiner [sc. des Paulus; E. R.] Intentionen dar. […] Mindestens so wichtig ist aber die Analyse der Voraussetzungen des Paulus: seines Wissens und Denkens, seiner kulturellen und religiösen Herkunft, seiner Ziele und Anliegen. Da für Paulus die alttestamentlichen Texte den Status des Gottesworts besitzen, stellen für ihn alle [!] ihre Aussagen zum Gericht Gottes eine autoritative Vorgabe dar, auch wenn sie ihm im Moment des Schreibens jeweils nicht alle bewusst sein konnten. […] Weiter spielt der pharisäische Hintergrund des Paulus eine große Rolle, aber ebenso seine Verwurzelung im Urchristentum und in der Jesustradition« (92).
Im Rückgang »hinter« die Paulusbriefe will S. rekonstruieren, was Paulus zum sogenannten »Endgericht« gelehrt habe (164 u. ö.). »Kontextfunktion versus Enzyklopädie«, so lautet das Motto (282). In der Sache versucht S. die größtmögliche Integration sämtlicher paulinischer Kontexte (einschließlich der Antilegomena, 127), der gesamten urchristlichen (Ausnahme: Johannesevangelium) und be­achtlicher Teile der frühjüdischen Tradition in ein einziges Ge­samtbild, den Frame »Endgericht« (124–178). Obwohl sich für diese Größe bei Paulus keine einheitliche Bezeichnung findet (bzw. gar keine), wird sie unter Verweis auf summarische Stichwortkataloge als gegeben »vorausgesetzt«.
Auch seine dogmatische Unterscheidung von »Anfangs- und Endrechtfertigung« (251 u. ö.) sichert S. exegetisch kaum hinreichend ab. Freilich kann er allein auf dieser Basis die Behauptung der Heilsrelevanz »ethische[r] Tadellosigkeit« (132) mit einer be­stimmten Art von »Rechtfertigungslehre« zusammenbringen (242–277). Ihm gilt das Christusgeschehen als eine Voraussetzung (»Er­möglichung«, »Befähigung«, »Rechtsgrund« u. ä.) der persönlichen »Rechtfertigung im Endgericht«. Das Heil selbst ist gegenständlich verfasst, nicht relational, denn »Gerechtigkeit« sei ein moralisch-ethischer Begriff (248 f.). Dem entspricht die eigentümliche Betonung des »Glaubens« im Sinne einer vom Menschen zu bewährenden Bedingung der Heilsteilhabe. »Glaube« wird verstanden als aktives »Partizipieren« (250 f.) an der durch den »Messias Jesus« ermöglichten Sündenvergebung (nicht an Christus selbst; Aus-nahme: 272). Jede einzelne Sünde, für die diese Vergebung nicht bewusst in Anspruch genommen wurde (durch adäquate Buße), habe in der Endabrechnung vom ewigen Leben ausschließende Wirkung. Das bedingt nach S. die eschatologische Dramatik der sogenannten »Christensünde« (bes. 262–276). Stellen, die anderes nahelegen (z. B. 1Kor 5,5; 11,30–32), werden entsprechend gedeutet: »Wohl kaum sind die Krankheits- und Todesfälle selbst das Mittel der Reinigung und Vergebung, weil Paulus nicht die davon Betroffenen als die Schuldigen bezeichnet, sondern gerade durch diese Fälle die Schuldigen zur Umkehr gerufen sieht« (268). Will Paulus wirklich sagen, dass Gott Unschuldige derart »züchtigt«, damit die Schuldigen umkehren?
In der Durchführung fällt auf, dass S. seinen Exegesen stets die Einheitsübersetzung zugrunde legt (53, Anm. 26), die oft nicht dem entspricht, was er zeigen will. Das verwirrt – ebenso wie etliche Ungereimtheiten, die allerdings nicht dem angeblich »aspektiven« Denken des Apostels, sondern mangelnder Präzision seitens S.s und einem teilweise inkonsistenten Sprachgebrauch geschuldet sind. So bleibt bei S. bis zuletzt unklar, ob die Christen nach 1Thess 1,10 nun »vor« (126, Anm. 316; 173), »aus« (71.280), »von« (251) oder »in« (137.243) dem kommenden Zorngericht gerettet werden. Fatalerweise hat diese Übersetzungsfrage auch für seine Gesamtthese er­hebliches Gewicht.
In der Summe erinnert die von S. vertretene Sicht an das Wort aus Faust II: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen« (trotz 11, vgl. VII). In diesem aktiven Sinne versteht S. »Perseveranz« (272–277). Man mag durchaus fragen, ob hier nicht »Chris­tus zum neuen Mose gemacht und die Rechtfertigung sola fide und sola gratia preisgegeben wird« (257 f.). Die Grundfrage lautet aber, ob die bloß funktionale Rede von »dem Christus/Messias Jesus« (passim) dem paulinischen Christuszeugnis tatsächlich ge­recht wird (problematisch etwa 130 m. Anm. 328). Letztlich entscheidet sich an der Christologie, ob Christus Heil nur ermöglicht oder selbst das Heil ist.