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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

767–770

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Neutel, Karin B.

Titel/Untertitel:

A Cosmopolitan Ideal. Paul’s Declaration ›Nei-ther Jew Nor Greek, Neither Slave Nor Free, Nor Male and Fe-male‹ in the Context of First-Century Thought.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2015. 280 S. = The Library of New Testament Studies, 513. Geb. £ 85,00. ISBN 978-0-567-65683-4.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Die Groninger Dissertation von Karin Neutel, jetzt Dozentin an der Universität Oslo, thematisiert den berühmten Satz Galater 3,28 vor dem Hintergrund der »social implications of Paul’s end-time expectations« (1) in seinem weiteren zeitgenössischen gedanklichen Zusammenhang. Nach einer forschungsgeschichtlichen und methodischen Einleitung erschließt N. ihr Thema in vier Kapiteln, die stringent dem behandelten Text folgen: (1.) One In Christ, (2.) Neither Jew Nor Greek, (3.) Neither Slave Nor Free, (4.) Nor Male And Female.
In der Einleitung plädiert N. für eine historische Kontextualisierung des Galatersatzes. N. rekurriert gegenüber applikativen Zu­gängen auf die klassischen Determinanten historischer Textinterpretation: Fremdheit der antiken Texte und intentio auctoris. Sie betont zurecht (mit Dunn) die Bedeutung der eigenen Stimme des Paulus: »Paul’s is one of the few ancient voices we can still hear today, and one of the even fewer Jewish voices. We should be careful to pick out this one distinctive voice, and hear what it says« (14). Auffallend ist, dass Gal 3,28 mehr oder weniger als eigenständige Texteinheit verstanden wird. N. spricht von der »formulaic nature of the verse that makes it stand out from its direct surrounding« und von »something of a foreign element« im Textzusammenhang (23).
Kapitel 1 (17–71) stellt die These des Paulus in Gal 3,28b: »Ihr seid alle einer in Christus Jesus« in den Mittelpunkt. N. liest den Text 3,26–28 gleichsam von hinten, vom argumentativen Ergebnis der ›Einsheit‹ her. N. betont den Taufzusammenhang, weist auf die teilweise Parallelformulierung in 1Kor 12,12 f. (und Kol 3,11) hin und kommt zu dem Schluss, es handele sich bei Gal 3,28 um eine Taufformel, die Paulus selbst in seinen Gemeinden eingeführt habe (gegen vorpaulinische Entstehung). Für N. ergibt sich daraus ein Taufverständnis, das über den individuellen Religionswechsel hinaus gemeinschaftsbezogene, eschatologische und kosmische (2Kor 5,17) Dimensionen hat (30).
Kapitel 2 (72–143) ist dem Gegensatzpaar »Weder Jude noch Grieche« gewidmet. N. führt zunächst allgemein in die verschiedenen Positionen gegenwärtiger Paulusforschung zum Thema »Paul’s attitude towards Jews and Gentiles« ein (76). In einem zweiten Durchgang werden die wichtigen Aspekte von Beschneidung, Ab­rahamkindschaft und Gesetz erörtert. Drittens werden griechisch-römische Ideen »about cosmopolitism and the connection between all humans and the divine« untersucht. Wichtig ist die Stellungnahme N.s zu der Frage, wie Ioudaīos bei Paulus zu verstehen sei. N. weist auf die von Steve Mason initiierte Debatte hin und votiert selbst gegen Mason mit Daniel Schwartz für die Übersetzung mit ›Jude‹, um die bei Paulus vorherrschende religiöse Konnotation des Begriffs abbilden zu können (72 f.).
Zur Beschneidung betont N., dass Paulus hier von der messianischen Eschatologie aus argumentiere: »because Christ is the beginning of the new age, gentiles can now been accepted by God as gentiles« (95). Proselyt zu werden »denies the change that Christ has made« (ebd.). N. setzt sich kritisch mit Positionen wie der von Paula Fredriksen auseinander, Paulus bleibe damit im Zusammenhang jüdischer Argumentation.
In Bezg auf Abraham setzt sich N. polemisch mit Pamela Eisenbaum und Caroline Johnson Hodge und der These auseinander, Paulus habe in Gal 3 alle Völker argumentativ in die abrahami-tische Familie integrieren wollen. N. stellt dagegen fest, dass das Argument von Gal 3 in Richtung auf Christus als »the singular seed of Abraham« läuft und dass Paulus »the traditional interpre-tation that the Jewish people collectively constituted Abraham’s seed« herausfordert (108). Noch wichtiger ist ihre weiterführende Beobachtung: Paulus »not only extends his [Abraham’s] ancestry to certain uncircumcised gentiles, but limits it to those of his circumcised descendants who follow in his messianic faith« (111).
Am wichtigsten sind N.s Ausführungen zum Gesetz. Die ›Ge­rechtigkeit aus dem Gesetz‹ ist nicht eine realistische theologische Position im zeitgenössischen Judentum, sondern eine polemische Perspektive des Paulus gegenüber dem Judentum, das seiner Wahrnehmung nach die neue eschatologische Zeit nicht versteht. Es geht Paulus also nicht um eine sachliche, sondern um eine eschatologische Disqualifizierung des Gesetzes (125). Das bedeutet auch: »There is no need to assume that Paul was driven by a criticism of the law per se; his negative statements in regard to the law seem primarily intended to explain its temporal limitation (as noted with regard to Gal. 3.21, cf. Rom. 7). The Jewish law can thus continue to serve as a moral compass for Paul.« (126)
Der Ertrag dieses zentralen Kapitels lässt sich in drei Punkten zusammenfassen (140–143). Erstens ist Paulus Vertreter eines deutlich jüdisch geprägten Kosmopolitismus. Zweitens beruht seine spezifische kosmopolitische Sicht auf seiner messianischen Eschatologie. Drittens ist sein Kosmopolitismus nicht gegen die ›heilsgeschichtliche‹ Stellung der Juden gerichtet, sondern erklärt sich aus seiner Überzeugung, »that the world was about to become radically different« (142) und dass das Festhalten am Alten – in diesem Fall am Gesetz »with its division into nations marked off by circum-cision« (143) – bedeutete, »to deny the new creation that was imminent« (143).
Kapitel drei (144–183) behandelt den Gegensatz »Weder Sklave noch frei« unter der Überschrift: »Brothers in the Lord«. N. weist nach, dass »Paul’s statements about slave and free tie in with discussions in contemporary thought, both Stoic and Jewish« (183), bei Seneca, Epiktet und Philon, aber sub contrario auch in den Saturnalien und in anderer Form bei den Essener- und Therapeutenbeschreibungen. Allerdings fehle diesen Entwürfen die Realisierungsperspektive.
Kapitel vier (184–233) ist dem Gegensatz »männlich und weiblich« gewidmet mit dem Untertitel: »Marriage at the end of the world«. N. wendet sich gegen Interpretationen, die – zum Teil auf gnostische Texte gestützt – in Gal 3,28 gender-equality finden (Wayne Meeks, Daniel Boyarin u. a.) oder androgyne Konzepte heranziehen. N. stellt stattdessen Gal 3,28 in den Zusammenhang mit Genesisinterpretationen bei Philon, in den Evangelien und in der Damaskusschrift (im Anschluss an Elisabeth Schüssler Fiorenza, Judith Gundry-Volf u. a.), in denen Gen 1,27 als Text über Ehe und Fortpflanzung interpretiert wird. Für Paulus heißt das: Gal 3,28 »is a statement about the eschatological end of male and female in procreation and marriage« (232).
Zusammenfassend (234–242) präzisiert N. noch einmal die Er-gebnisse ihrer Studie. Die Frage lautete, was Gal 3,28 im 1. Jh. n. Chr. bedeuten bzw. wie dieser Satz gehört werden konnte. N. antwor-tet: Die Begriffspaare waren relevant, und das statement des Paulus war »significant in the cultural conversation of his time« (234). Weiter betont N. noch einmal den Taufzusammenhang und den eschatologischen Fokus von Gal 3,28. Für die zeitgenössischen Leser gilt: »The declaration would have struck a chord with a first-century understanding of an ideal time or way to live« (235). Dies Ideal wurde in den Gemeinden des Paulus mindestens ansatzweise realisiert.
Die Bibliographie (14 Seiten, 12 deutschsprachige Titel, 6 davon neutestamentlich) und Indizes schließen den Band ab.
N.s Arbeit zeichnet sich durch große Klarheit, Stringenz und Überzeugungskraft aus. Sie steht in einer ebenso lebhaften wie sorgfältigen Diskussion mit einigen aktuellen englischsprachigen Paulusdeutungen (new perspective, radical perspective), zu deren kritischer Justierung sie Erhebliches beiträgt. Die Arbeit kann besonders der deutschsprachigen Paulusexegese nur wärmstens empfohlen werden, die teilweise sehr andere Wege geht und – wenn man der Bibliographie N.s folgt – gegenwärtig den Zusammenhang mit der englischsprachigen Forschung nicht erfolgreich herstellt.
Drei Überlegungen seien abschließend formuliert. Erstens: N. wählt die historische Kontextualisierung und stellt Gal 3,28 in den kosmopolitischen Diskurs. Paulus erweist sich hier – wie anderswo – als ein selbständiger, jüdisch geprägter Diskursteilnehmer, der jenseits der Dichotomie ›jüdisch – pagan‹ seine eigene Weltinterpretation vorlegt.
Zweitens: Auf dieser Studie kann eine notwendige weitergehende textliche Kontextualisierung im Zusammenhang des Galaterbriefes aufbauen. Dabei wird noch einmal die Rolle des εἷς im Zu­sammenhang der Argumentation um »Abrahams Söhne« (Gal 3,7) zu diskutieren sein (Gal 3,16.28). Was bringt Paulus dazu, diese argumentative Digression – wenn sie denn eine ist – in den Zusammenhang der großen Argumentation einzufügen, die dem Nachweis der Abrahamskindschaft der Galater gilt (3,6–4,31)?
Drittens: der gap zwischen deutschsprachiger und englischsprachiger Paulusinterpretation ist in dieser Studie – wie auch anderswo – überdeutlich sichtbar und sollte nicht schweigend übergangen oder gar als selbstverständlich angesehen werden. Einerseits ist von deutscher Seite nicht zu verstehen, weshalb – anders als in der letzten Generation – englischsprachige Publikationen so gut wie keine deutschen Studien rezipieren (im vorliegenden Fall handelt es sich um eine niederländische Verfasserin, die sich offensichtlich ganz selbstverständlich vollständig an der angloamerikanischen Paulusforschung orientiert), andererseits sind die wichtigen Impulse der jüngsten Paulusforschung aus der angelsächsischen Exegese gekommen. Diese mindestens partielle Trennung der verschiedenen Kulturen der Paulusinterpretation stellt ein sprachliches und ein sachliches Problem der internationalen Paulusforschung dar.