Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

765–767

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Marshall, Jill E.

Titel/Untertitel:

Women Praying and Prophesying in Co­rinth. Gender and Inspired Speech in First Corinthians.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIII, 255 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 448. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-155503-9.

Rezensent:

Armin D. Baum

Warum hat Paulus den korinthischen Christinnen das prophetische Reden in 1Kor 11 erlaubt und in 1Kor 14 verboten? Auf diese Frage möchte Jill Marshall in ihrer an der Emory University verfassten Dissertation eine neue (158.216.220) Antwort geben. Sie lautet, dass in 1Kor 11–14 zwei gegensätzliche Tendenzen aufeinandertreffen, die auch in der antiken Umwelt des Paulus unausgeglichen nebeneinander standen. Einerseits galten Frauen als be­sonders begabte Propheten. Andererseits wurde das öffentliche Reden von Frauen stark eingeschränkt. Auch Paulus schwankte zwischen einem geschlechterunabhängigen Rederecht für Propheten und Prophetinnen (in 1Kor 11,2–11) und einer hierarchischen Geschlechterasymmetrie, die das prophetische Reden von Frauen ausschloss (1Kor 14,33b–35).
In Kapitel 1 (9–41) präsentiert M. einen weit ausgreifenden Forschungsüberblick zur Situation der korinthischen Gemeinde, zur Rolle von Frauen in christlichen Versammlungen, zur Definition von Prophetie und Zungengebet sowie zu Prophetinnen in der Antike.
In Kapitel 2 (43–71) untersucht M. die archäologischen Über-reste des antiken Korinth daraufhin, was sie über das inspirierte und religiöse Reden von Frauen im öffentlichen Raum zu erkennen geben. Aus Inschriften (vor allem auf dem römischen Forum), die von Frauen in Auftrag gegeben wurden oder Frauen als öffentliche Wohltäterinnen usw. erwähnen, lässt sich ableiten, dass einige korinthische Frauen wirtschaftlich und kultisch einflussreich wa­ren. Sie wurden jedoch nicht anhand ihrer politischen und religiösen Funktionen identifiziert, sondern anhand ihrer Familienzugehörigkeit als Töchter, Ehefrauen und Mütter ihrer Väter, Ehemänner und Söhne (48–51).
Weiterhin lässt sich zeigen, dass korinthische Frauen sich an der Verehrung der Göttinnen Demeter und Isis beteiligten. Es wurden Bleitafeln mit Flüchen und Gebeten von Frauen gefunden. Während bei Kultfesten für die Göttin Isis männliche Priester das Wort führten, beteiligten sich Frauen am kollektiven Beten und Singen (51–66). Es gibt aber keine Belege dafür, dass im Apollontempel von Korinth Frauen prophetisch redeten (66–70).
M.s historische Schlussfolgerung lautet, die verschiedenen Heiligtümer und Tempel und sogar das Forum seien »potential spaces in which women prayed or prophesied« (71).
In Kapitel 3 (73–108) führt M. vor, wie sich drei ausgewählte antike Autoren zum Reden von Frauen geäußert haben. Sie befragt Livius für die römische, Plutarch für die griechische und Philo für die jüdische Kultur.
Aus dem Bericht des Livius über die Aufhebung der Lex Oppia schließt M. zu Recht, dass Frauen keine öffentlichen Versammlungen abhalten und keine öffentlichen Reden halten durften. Livius berichtet aber auch darüber, dass römische Matronen ein Kultbild, das aus Phrygien nach Rom überführt wurde, öffentlich in Empfang nahmen. Zu diesem religiösen Zweck war es ihnen erlaubt, in der Öffentlichkeit zu agieren (75–82). Aus dieser und einigen ähnlichen Angaben leitet M. ab, dass ihre religiösen Rollen es antiken Frauen erlaubten »to act and speak in male spaces« (82).
Philo von Alexandrien forderte, dass Frauen sich nicht an den männlichen Aktivitäten im öffentlichen Raum beteiligen sollten. Zugleich berichtete er von den jüdischen Therapeuten, dass sich in ihren Versammlungen die Frauen am gemeinsamen Gesang beteiligten (82–98).
Plutarch spricht in seinen Eheratschlägen deutlich aus, dass Frauen in der Öffentlichkeit nur vermittelt durch ihre Ehemänner das Wort ergreifen durften. In Plutarchs Schrift über die Tugenden der Frauen findet M. dagegen Erzählungen »about women acting and speaking to influence their community’s well being« (99). Sie räumt aber ein: »He is less clear about whether a woman should speak in public spaces« (101).
Aus diesem Gesamtbefund folgert M., dass die archäologischen Überreste des antiken Korinth die von vielen antiken Autoren behauptete Beschränkung weiblicher Aktivitäten auf den privaten Raum in Frage stellen (158). In Wirklichkeit seien Frauen weit weniger aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen worden, als die erhaltenen Texte männlicher Autoren behaupten (216). Was Livius, Philo, Plutarch und Paulus über die antike Geschlechtertrennung geschrieben haben, treffe nur bedingt zu (219).
In Kapitel 4 (109–155) zeigt M., was antike Quellen über die Aktivitäten von Prophetinnen erkennen lassen. Seit frühester Zeit und bis weit in die christliche Epoche hinein wurden prophetische Äußerungen von Frauen ernst genommen und geschätzt. Die Rolle, die Frauen in religiösen Ritualen spielten, »took them into spaces that men inhabited: forums, marketplaces, and sites of political assembly« (178). Mit anderen Worten: »Women did […] speak openly for various audiences in religious settings« (4).
Kapitel 5 (157–179) ist der Interpretation von 1Kor 11,2–16 gewidmet. M. hält diesen Text für argumentativ missglückt. Während Paulus von 11,3 an für eine Unterordnung der Frauen unter die Männer plädiere, widerspreche er diesem Ansatz bereits in 11,11–12, wo er von einer Gleichberechtigung der Geschlechter spreche. Diese Unausgeglichenheit reflektiere eine Spannung, die die gesamte antike Gesellschaft durchzogen habe.
Kapitel 6 (181–213) befasst sich mit 1Kor 11,16–14,40. Zwischen diesem und dem vorangehenden Text 1Kor 11,2–16 bestehe dieselbe Spannung wie innerhalb von 1Kor 11,2–16 – und innerhalb der antiken Gesellschaft insgesamt. In 1Kor 11–14 habe Paulus eine geschlechtergerechte Aussage über die Tätigkeiten von Frauen im Verlauf seiner Argumentation wieder zurückgenommen. M. wendet sich dagegen, diesen Widerspruch wegzuerklären (75).
Mit ihrer Untersuchung hat M. einen wertvollen Diskussionsbeitrag zur Interpretation von 1Kor 11–14 vor seinem kulturellen Hintergrund vorgelegt. Ihre Hauptthese fordert jedoch mehrere Einwände heraus:
1. M. schreibt: »most modern New Testament scholarship does not attempt to situate Paul over and against the culture and soci-ety in which he wrote« (219). Das dürfte eine Fehleinschätzung sein, deren Auswirkungen auf M.s Argumentation aber gering sind.
2. Die archäologische Evidenz hat M. m. E. überinterpretiert. Ihr zweites Kapitel enthält keine archäologischen Belege dafür, dass es Korintherinnen erlaubt war, in der Öffentlichkeit Gebete und Weissagungen vorzutragen. Daher steht die archäologische Evidenz nicht im Widerspruch zu den Aussagen von Livius, Plutarch, Philo (und Paulus).
3. Wahrscheinlich hat M. die Bedeutung der Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum, der die antike Literatur durchzieht, unterschätzt. Die Regel, dass Frauen im öffentlichen Raum nicht reden durften, wurde in der antiken Welt konsequenter gehandhabt, als M. meint. Der Bericht des Livius über das Entgegennehmen eines Kultbildes durch römische Matronen lässt nicht erkennen, dass sie bei dieser Gelegenheit öffentlich das Wort ergriffen haben. Und auch Philo behauptet nicht, dass die weiblichen Mitglieder der Therapeuten öffentliche Prophezeiungen oder Gebete vorgetragen haben. Das heißt nicht, dass es zum antiken Redeverbot für Frauen in der Öffentlichkeit keine Ausnahmen gab. Vor allem in der römischen Kultur durften Frauen in der Öffentlichkeit ausnahmsweise das Wort ergreifen, wenn ihre persönlichen Angelegenheiten betroffen waren oder wenn das Gemeinwohl bedroht war (vgl. etwa J. E. Grubbs, Women and the Law in the Roman Empire. London: Routledge 2002, 60–80 u. ö.). Unter normalen Umständen äußerten sich jedoch auch antike Prophetinnen nicht im öffentlichen, sondern im privaten Raum. Da Paulus in 1Kor 11 neben dem Prophezeien von Frauen auch ihr Beten erwähnt hat, dürfte an dieser Stelle ein Abgleich mit den antiken Angaben zu weiblichen Gebeten nützlich sein. Das jüdische Material hat M. McDowell (Prayers of Jewish Women. Studies of Patterns of Prayer in the Second Temple Period. Tübingen: Mohr Siebeck 2006) gesammelt und ausgewertet.
4. Auf die mögliche Relevanz der antiken Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum für die Interpretation von 1Kor 11–14 kommt M. nur ganz am Rande zu sprechen (166). Möglicherweise hätte die These, dass Paulus den korinthischen Chris-tinnen in 1Kor 11 das Reden im privaten Rahmen erlaubte und ihnen in 1Kor 14 das Reden im öffentlichen Rahmen untersagte, etwas mehr Aufmerksamkeit verdient, als M. ihr geschenkt hat. Jedenfalls wurde sie schon von Auslegern wie Origenes vertreten, die in (einer späteren Phase) der antiken Kultur zu Hause waren (vgl. J. A. Schroeder, Deborah’s Daughters. Gender, Politics and Biblical Interpretation. Oxford: University Press 2014, 14–17).
Auch falls M.s Hauptthese sich nicht halten lassen sollte, stellt ihre Monographie zweifellos einen substanziellen Diskussionsbeitrag zu 1Kor 11–14 dar, mit dem sich ein kritischer Dialog lohnt.