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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

762–765

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hays, Richard B.

Titel/Untertitel:

Echoes of Scripture in the Gospels.

Verlag:

Waco: Baylor University Press 2016. 524 S. Geb. US$ 49,95. ISBN 978-1-4813-0947-9.

Rezensent:

Roland Deines

Das Buch des amerikanischen Neutestamentlers hat eine bewegende Entstehungsgeschichte. Nach der Diagnose einer Krebserkrankung war zunächst nicht klar, ob Hays dieses Buch, an dem er seit Längerem arbeitete, noch würde abschließen können. Seine Frau, Freunde und Kollegen halfen dabei, das Manuskript druckfertig zu machen, worüber das Vorwort Auskunft gibt. Es bildet Fortsetzung und Abschluss einer Reihe von Arbeiten, die sich mit der Rezeption der jüdischen Heiligen Schriften im Neuen Testament beschäftigen. Am Anfang steht seine Dissertation Echoes of Scripture in the Letters of Paul (1989), die manche als den Beginn der Intertextualitätsdebatte innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft sehen. Seither sind zahlreiche weitere Arbeiten von H. zu diesem Thema erschienen, wobei der anfängliche Schwerpunkt sich von den Paulusbriefen über die Apokalypse hin zu den Evangelien bewegt (XIII). In dem vorliegenden Werk sind zahlreiche seit 2002 veröffentlichte Aufsätze zu einer Gesamtdarstellung verarbeitet (XVI f.).
Was die Arbeiten von H. gegenüber traditionellen Studien über die neutestamentliche Rezeption alttestamentlicher Texte auszeichnet, ist ihr literarischer Zugang, im Unterschied zu einem philologisch-historischen. Letzterer fragt vorrangig nach der einem Zitat zugrunde liegenden Textvorlage (griechisch oder he­bräisch) und danach, inwieweit der neutestamentliche Autor den vermeintlichen Wortsinn des Prätextes berücksichtigt bzw. verstanden hat. Bestenfalls wird noch nach dem näheren Kontext im Prätext gefragt, aber nur selten wird dabei so etwas wie ein gesamtbiblisches Verständnis sichtbar, das dem jeweiligen Zitat zugrunde liegt. H. denkt dagegen von den großen biblischen Zusammenhängen her, die er für die neutestamentlichen Autoren als gegeben voraussetzt und die er in die Gegenwart vermitteln will. Das macht insbesondere sein Schlusskapitel deutlich (357–366), wenn er fragt: »What would it mean to undertake the task of reading Scripture along with the Evangelists?« Es geht H. dabei um nichts weniger als eine »Bekehrung« (schon auf S. 4: »a conversion of the imagination«, unter Aufnahme seines Buchtitel The Conversion of the Imagina-tion: Paul as Interpreter of Israel’s Scripture, Grand Rapids 2005) zu einer Lektüre des Alten Testaments, die sich vom theologischen – nicht historischen – Verständnis desselben durch die Evangelisten leiten lässt. Das Ziel des Buches ist ein zweifaches: Zum einen will H. zeigen, wie die Evangelisten das Leben, Wirken, Sterben und Auferstehen Jesu als »continuation and climax of the ancient biblical story« darstellen, zum anderen geht es ihm um die Überwindung des (oft unbewussten) »Marcionite bias« in Theologie und Kirche, welche das Alte Testament vorwiegend als dunkle Folie gebraucht, von der sich das Evangelium abhebt (5). Für beide An-liegen ist H. sehr zu danken, und die Lektüre des Buches erlaubt – lässt man sich auf diese Methode ein – ungewohnte und herausfordernde Einsichten, die es wert sind, stärker in den Vordergrund gerückt zu werden. Das gilt auch dann, wenn einem – wie dem Rezensenten – H.s beziehungsreiche Sprache Mühe bereitet. Sein metaphorisches Mäandern, gespeist von Analogien aus Musik, Film und Kunst, und die ständige Betonung, dass ein Zitat, eine Anspielung oder ein Echo »subtle«, »elusive« oder »rich« sind bzw. »subtly«, »subliminally« oder »richly« auf zusätzliche Bedeutungsebenen verweisen, sorgt für einen gewissen Überdruss, selbst wenn man dem Gesamtwerk mit großem Wohlwollen gegenübersteht.
Entscheidend ist H.s Methode des »figurative reading« oder der »figural interpretation«, die er schon in Luthers Vorrede zur Übersetzung des Alten Testaments von 1523 dargestellt sieht, wenn Luther die alttestamentlichen Bücher als die Windeln und die Krippe bezeichnet, in denen Christus zu finden ist. Damit grenzt sich H. gegen typologische und erfüllungstheologische Verstehensweisen ab, die den Bogen vom Alten Testament in die noch offene Zukunft schlagen und einer Ablösung bzw. Überbietung des Alten Testaments als Grundlage dienen konnten. Zugleich betont er den Unterschied zwischen »prediction« und »prefiguration«. Erstere setzt voraus, dass die alttestamentlichen Autoren sich bewusst waren, über den zukünftigen Messias zu schreiben, woran H. kein Interesse hat, weil es für seine Methode unerheblich ist, ob sie etwas von dem ahnten oder hofften, was die neutestamentlichen Verfasser in ihren Texten fanden. Sein Verfahren ist das Rückwärtslesen: Ausgehend von der Erfahrung, dass Jesus »not only the Son of God but actually the embodiment of the divine presence in the world« (9) gewesen ist, lasen die Evangelisten die biblischen Schriften ganz neu und entdeckten darin, ausgehend von ihrer gegen wärtigen Erfahrung, dass »the Torah and the Prophets and the Psalms mysteriously prefigure Jesus« (3, mit Verweis auf Joh 5,46).
Das Buch ist klar gegliedert: Auf eine knappe Einleitung (1–14) folgen vier umfangreiche Kapitel, in denen die vier Evangelien in je fünf Punkten analysiert werden: Ein erster Durchgang gibt einen Überblick über die alttestamentlichen Referenztexte: für Matthäus kommt H. auf 124 Verweise (»references … including allusions«), für Markus auf 70, Lukas 109 und Johannes 27 (284), aber er macht deutlich, dass diese Zahlen allein nichts über die Intensität der Beziehungen zum Alten Testament in dem jeweiligen Evangelium aussagen. Diesem ersten Überblick folgen weitere anhand von drei Leitfragen: 1. Wie wird Israels bisherige Geschichte anhand der Schrift dargestellt? 2. Wie wird die Schrift eingesetzt, um Jesu Identität zu vermitteln? Und schließlich 3. Inwieweit dient die Schrift dazu, die Aufgabe und Funktion der Kirche in der Welt zu beschreiben? Für jede dieser Fragen geht H. jeweils das ganze Evangelium noch einmal durch, so dass er insgesamt vier Lektüren für jedes Evangelium vorlegt, ehe in einem letzten Punkt die »scriptural hermeneutic« jedes Evangelisten einzeln herausgearbeitet wird.
Markus, den er aufgrund von Mk 4,11 als »Herald of Mystery« einführt, sieht in Israels Geschichte die Jesusgeschichte bereits geheimnisvoll abgebildet. Das Geheimnis, an das er die Leser durch seine subtile Intertextualität heranführt, besteht in der Identi-tät Jesu, der als gekreuzigter Messias zugleich »paradoxically the embodiment of the God of Israel« ist (101). Die dem Markusevan-gelium nicht selten unterstellte christologische Armut ist nach H. die direkte Konsequenz der fehlenden Beachtung seiner Schriftbezüge: »if the scriptural intertexts in Mark are ignored, a diminished Christology inevitably follows« (98).
Diese subtilen Echos auf Israels Schriften erschließen sich allerdings nur dem aufmerksamen Leser (»alert reader«), der – wie H. – in der Lage ist, in Echos und Wispern die biblischen Prätexte zu entdecken, die Markus verwendet, um in Jesus die heilvolle Gegenwart Jahwes und den von Jesaja verheißenen neuen Exodus erkennen zu können (zu H.s Definition von »quotation«, »allusion« und »echo« s. 10 f.). »Metalepsis« ist ein anderer Terminus, mit dem man sich vertraut machen muss, will man H. folgen. Er versteht darunter eine literarische Technik, bei der mittels eines kurzen Zitats oder einer Anspielung auf einen Prätext nicht nur der betreffende Vers, sondern zugleich der »original context« mitaufgerufen wird. Erst die Einbeziehung dieses Kontexts erlaubt es, den Sinn der Anspielung zu verstehen und als Folge davon die beiden Texte in Verschränkung miteinander zu lesen (»reading the two texts in dialogical juxtaposition«, für konkrete Anwendungen s. z. B. 84 f.198). Damit wird ein Ma­ximum an intertextuellen Bezügen ermöglicht, aber es besteht die Gefahr, dass dies zu einer Spielerei wird, die an allegorische und typologische Übertreibungen erinnert: Plötzlich wird alles auf sublime Weise bedeutungsvoll, so dass die deutlichen und eindeutigen Bezugnahmen auf das Alte Testament im Meer der möglichen Anspielungen verschwimmen. Was fehlt ist – außer der historischen Plausibilisierung, dass Menschen im 1. Jh. biblische Texte auf diese Weise rezipieren konnten – eine methodische Kontrolle, die intertextuelle Möglichkeiten von Wahrscheinlichkeiten unterscheidet. Bei H. selbst werden aus möglichen Echos oft sehr schnell weitreichende Schlüsse auf das gezogen, was der Evangelist wollte, d. h. Möglichkeiten werden unkritisch zu Gegebenheiten.
Matthäus steht unter dem Thema »Torah Transfigured«, seine Christologie ist vom Immanuel-Motiv bestimmt. Das umfangreichste Kapitel betrifft Lukas, weil darin auch die Apostelgeschichte einbezogen ist; es steht unter dem Motto »The Liberation of Israel« (ausgehend von Lk 1,51–54). Christologisch geht es um die Identität von Israels Kyrios mit Christus als dem Kyrios (279). Das Johannesevangelium wird bestimmt durch die Neukonfiguration von Israels Festen und des Tempelkults (»The Temple of His Body«). Der Ort, wo Israels Gott wohnt, ist nicht mehr der gebaute Tempel in Jerusalem, sondern Jesus, der als Logos und Weisheit schon war, bevor er sich im Tempel von Israel finden ließ.
Auf diese Weise liest H. die Evangelien als je eine Weiterschreibung der Gottesgeschichte mit Israel. Dabei betont er die je spezifische Zugangsweise der einzelnen Evangelisten (»they represent distinctly different styles and sensibilities«; 356), die dennoch – als »distinctive voices singing in polyphony« (349) – zu einer »complex unity« zusammenfinden (356). Besonders hervorzuheben ist die christologische Einheit, die H. konstatiert: »each of the four Evangelists, in their diverse portrayals, identifies Jesus as the embodiment of the God of Israel« (363). Den Abschluss des Buches bildet eine kurze Zusammenfassung dessen, was durch diese Lektüren gewonnen wird, und der erneute dringliche Appell, sich auf die Vorgaben der Evangelisten einzulassen (»conversion« 360 f.). Wer wissen will, worum es H. theologisch, kirchlich, aber auch persönlich-geistlich geht, der sollte mit dieser Zusammenfassung beginnen. Das Buch besitzt Endnoten, die mehr enthalten als nur Literatur- und Zitatnachweise (367–441), was einigermaßen mühsam ist. Die Bibliographie ist relativ überschaubar, deutsche Titel kommen nur sehr vereinzelt vor. Es gibt zwar einen Stellen- und Autorenindex, aber kein Themenregister, was zu bedauern ist.
Das Buch bringt eine notwendige und hilfreiche Öffnung des Blicks für die Art und Weise, wie die Evangelisten Jesus aus einer gesamtbiblischen Perspektive verstanden haben. Besonders ertragreich ist dieses Rückwärtslesen für die Christologie, weil H. zu zeigen vermag, dass die alttestamentlichen Verweise auf das Christusgeschehen nicht beziehungs- und zusammenhanglos aus dem Kontext gerissen sind, sondern auf einer Gesamtschau von Israels Ge­schichte mit Gott beruhen und somit »sachgemäß« sind. H. ist zudem darauf bedacht, dass aus dieser christlichen (»evangelischen«) Lektüre von »Israel’s Scripture« (so der bevorzugte Terminus, aber auch »Old Testament« kommt vor, ohne dass ein Bedeutungsunterschied erkennbar wird [z. B. 10], was doch einigermaßen erstaunt) kein christlicher Triumphalismus oder Antijudaismus erwächst; er verweist darum, etwa bei Matthäus, auch auf die in dessen Hermeneutik angelegten Gefährdungen in diese Richtung.
Es gibt also gute Gründe, dem Buch weite Verbreitung und eine intensive Diskussion zu wünschen. Dabei müsste es u. a. um die bei H. zu sehr im Hintergrund stehenden historischen Fragen gehen, um dem Einwand zu begegnen, dass der theologische Reichtum und die inhaltliche Geschlossenheit nur um den Preis des Außerachtlassens der historischen Bedingtheiten gewonnen wurden.