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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

761–762

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Grünstäudl, Wolfgang, Schiefer Ferrari, Markus, u. Judith Distelrath [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verzwecktes Heil? Studien zur Rezeption neutestamentlicher Heilungserzählungen.

Verlag:

Leuven: Peeters Publishers 2017. XII, 225 S. = Biblical Tools and Studies, 30. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-90-429-3440-5.

Rezensent:

Martin Meiser

Der Band sieht seine Aufgabe in der Sensibilisierung traditioneller Exegese für die Anliegen der sogenannten Dis/ability-Studies, die »Behinderung« ebenso wie »Nicht-Behinderung« als soziokultu-relle Konstruktion und gesellschaftliche, nicht naturgegebene Kategorisierung auffassen. Vertreterinnen und Vertreter dieser Fragerichtung problematisieren auch die neutestamentlichen Heilungserzählungen: Inwiefern tragen sie zur Konstruktion der binären Opposition normal/normabweichend bzw. Ability vs. Disability bei, die zur Diskriminierung des »Nichtnormalen« missbraucht werden kann? Dieser Frage geht vorliegender Band nach. Er versteht sich als Fortsetzungsband des von Wolfgang Grünstäudl und Markus Schiefer Ferrari herausgegebenen Bandes »Ge­störte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese« (Stuttgart 2012) und ist zumeist konkreten Phänomenen der Rezeptionsgeschichte gewidmet.
Alois Stimpfle zeigt in seinem eröffnenden Grundsatzbeitrag die Notwendigkeit für alle am Dis/ability-Diskurs Beteiligten, die eigenen Denkvoraussetzungen zu hinterfragen, die für die herkömmliche Exegese in den vorausgesetzten Differenzkategorien beschlossen liegen (19 f.). Positive Ansätze zu einer verantwortbaren bibeltheologischen Dis/ability-Exegese lassen sich am ehesten von 1Kor 12,7 aus entwickeln (32). Das Beispiel der literarischen Figur des Anchises in Vergils Aeneis zeigt, so Norbert Jacoby, welche Bedeutung behinderten Menschen in der Antike zugeschrieben werden konnte: Anchises muss immer wieder seinen Sohn Aeneas mahnend ermutigen, dem von den Göttern vorgegebenen Weg zu folgen. Dass geistig Behinderte in antiken Haushalten wie selbstverständlich gepflegt wurden (62), ist im Hinblick auf die landläufige Einschätzung christlicher Nächstenliebe als eines Alleinstellungsmerkmals dieser jungen Bewegung im griechisch-römischen Kontext von Bedeutung. Annette Weißenrieder untersucht drei ausgewählte Krankheitsschilderungen. Seneca (ep. 54) sieht Krankheit als Herausforderung, stoische Unerschütterlichkeit auch im eigenen Lebensvollzug zu bewähren. Der der Gattung des Freundschaftsbriefes verpflichtete Briefwechsel zwischen Fronto und Mark Aurel fungiert als »Schutzschild gegen die Macht der Krankheit und des Leidens« (79). Die vieldiskutierte Krankheit des Paulus (2Kor 12,7–9) dürfte als Schwäche der Konstitution zu bezeichnen sein (89). Anke Dorman belegt aus verschiedenen Qumrantexten, dass Behinderte durchaus Teil der Qumrangruppe waren, aber mit minderem Rechtsstatus; Einschränkungen hinsichtlich der Beteiligung am Gemeindeleben werden teils aus Reinheitserwägungen (1QSa 8 f.; CD X 17), teils aus praktischen Erwägungen heraus getroffen (4Q 266; 4Q 267; 4Q 273). Diese zuletzt genannten Texte zeigen wie Lk 1,23, dass Priester auch bei teilweise gegebener Behinderung nicht gänzlich vom Dienst ferngehalten wurden. Bei den neutes-tamentlichen Heilungsgeschichten dürfen die Angaben über Bettelei Behinderter (Mk 10,46 etc.) nicht vorschnell auf alle im Neuen Testament genannten Behinderten übertragen werden; eine gesellschaftliche Randstellung sei nicht zwingend, ebenso wenig eine religiöse (Mk 3,1 und Mt 21,14 setzen die Anwesenheit Behinderter in der Synagoge bzw. im Tempel voraus). Der bei Makarios Magnes zitierte anonyme Hellene stellt, so Matthias Becker, in seiner Kritik an Jesu Exorzismus Mt 8,28–34 die Gefährlichkeit böser Dämonen mit Hilfe von Metaphern und Sprachbildern u. a. des Mordens, des perfiden Spieltriebes und des Krieges heraus; nicht die christliche Religion, sondern die platonische Philosophie sei in der Lage, Angstzuständen der Menschen wirksam zu begegnen. Wolfgang Grünstäudl weist die These zurück, bei Augustin sei »Behinderung« ursächlich mit Sünde verknüpft, hält für Augustinus gleichwohl eine normative und idealisierende Ästhetik des Auferstehungsleibes fest, in der körperliche Differenz faktisch zum Verschwinden gebracht wird. Allerdings zeigen die Betonung der Leiblichkeit sowie der Gedanke, die Wunden der Märtyrer seien auch an ihrem Auferstehungsleib sichtbar, dass Augustinus keineswegs das Christentum platonisierend nivelliert. Markus Schiefer Ferrari diskutiert verschiedene Ansätze, die bei stadtrömischen Sarkophagen des 4. Jh.s so häufig feststellbare Größendifferenz zwischen Christus und den Heil(ung) Suchenden zu erklären, die ja im Zusammenhang mit anderen Größendifferenzen (sichtbar bei den Darstellungen der Erschaffung des ersten Menschenpaares wie der Taufe Jesu) interpretiert werden muss. S. E. können weder die Ableitung von paganer Herrscherikonographie noch eine supponierte Taufsymbolik (Heilung versetzt wie die Taufe in den paradiesischen Zustand zurück) noch eine ethische Deutung im Sinne des geforderten Statusverzichtes überzeugen – mit ihnen gehe faktisch stets eine Marginalisierung und Diskriminierung von Behinderung einher. Exegetisch wie kunsthistorisch plausibel wie dis/abilityhermeneutisch akzeptabel sei allein eine Deutung als Verweis auf die Dynamis Gottes.
Der Band greift eine aktuelle Herausforderung auf. Ihm sind viele Leser zu wünschen, die sich sensibilisieren lassen.