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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

759–761

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dyer, Bryan R.

Titel/Untertitel:

Suffering in the Face of Death. The Epistle to the Hebrews and Its Context of Situation.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2017. XV, 209 S. = The Library of New Testament Studies, 568. Geb. £ 85,00. ISBN 978-0-567-67235-3.

Rezensent:

Phillip A. Davis

In seiner überarbeiteten Dissertation (McMaster Divinity College), betreut von Stanley Porter und Cynthia Westfall, untersucht Bryan R. Dyer die Themen Leid und Tod im Hebr und formuliert eine »modest«, doch in weiten Teilen überzeugende These: Der Hebr sei an Adressaten geschrieben, die sich in gegenwärtigem (nicht nur vergangenem [10,32–36]) Leid und unter Todesgefahr bzw. in To­desfurcht befinden (2).
Das Buch ist in sieben Kapitel aufgeteilt. In den ersten beiden (5–20; 21–46) skizziert D. frühere Studien zu Leid und Tod im Hebr, vor allem solche aus den letzten 20 Jahren – leider nicht chronologisch–, sowie vorgeschlagene Anlässe seiner Abfassung. Nach D. fehlt sowohl eine gründliche Untersuchung zu den Themen im Hinblick auf die soziale Situation der Adressaten als auch eine ausreichende Wahrnehmung des Leidens als dem möglichen Anlass der Abfassung des Hebr.
Im dritten Kapitel (47–75) versucht D. eine Methode zu entwi-ckeln, die die Rekonstruktion der sozialen Situation der Adressaten ermöglicht. Um zunächst die relevanten Perikopen zu identifizieren, beschränkt sich D. nicht auf Einzelwörter wie πάσχω oder θάνατος, sondern bedient sich der semantic domain theory und sucht anhand des Louw-Nida »Greek-English Lexicon of the New Testament based on Semantic Domains« auch nach verwandten Lexemen von entsprechenden semantic domains wie z. B. θλῖψις. Die Rekonstruktion des sozialen Kontextes analysiert diesen Textbefund basierend auf der »systemic functional linguistics«, die voraussetzt, dass »all language is used to accomplish something« (58). Ferner werde alles Sprachliche nicht nur von der Kultur bestimmt (»context of culture«), sondern beziehe sich ebenso auf eine spezifische Situation (»context of situation«; 55). Letztere Annahme – die die Exegese m. E. ohnehin voraussetzt – ermöglicht es D., diesen »context of situation« ansatzweise zu rekonstruieren. Zur Ergebniskontrolle schlägt D. fünf Prinzipien vor, anhand derer der soziale Kontext des Hebr rekonstruiert werden könne: Pervasiveness, Semantic Variation, Type of Utterance, Prominence sowie Cohesion und Coherence.
Der Ansatz wird in den Kapiteln 4 bis 5 (77–109; 111–130) angewendet, indem zunächst »suffering and death language« identifiziert wird. D. entdeckt 23 Termini des semantischen Feldes »Leid« mit 36 Vorkommen und 21 Termini des semantischen Feldes »Tod« mit 64 Vorkommen. Nur in Hebr 1 und 8 fehlt solche »language«. Der Gefahr einer endlosen Erweiterung der relevanten domains scheint D. zu entgehen, auch wenn nicht jedes Beispiel überzeugt (z. B. hat μακροθυμία im unmittelbaren Kontext von Hebr 6,12 nichts mit Bedrängnis zu tun). Nach einer auffallend kurzen Analyse aller Termini in ihren jeweiligen literarischen Kontexten (85–107) schlussfolgert D.: »[…] one can no longer deny that suffering and death are significant topics for the author of Hebrews« (108). Die weitere Analyse zeigt, dass Leid und Tod sehr oft vorkommen (Pervasiveness), und zwar in variablen semantischen Formen (Semantic Variation), und dass die Adressaten zum Ausharren im Leiden durch Imperative und Prohibitive (Type of Utterance; z. B. 13,3.7.13) ermuntert werden. Die Themen zeigen auch »Prominence« in drei – etwas willkürlich ausgesuchten – Testpassagen (117–122; Hebr 2,5–18; 10,32–39; 12,1–14). D. betont unter Verweis auf die Erwartung eschatologischer Errettung (10,36.39), die Vorstellung der Treue (11) und den Beistand des Hohenpriesters Christi (2,10–18) m. E. zu Recht, dass sich die Theologie des Hebr gut im Kontext einer akuten Leidenssituation seiner Adressaten verorten lässt (Cohesion und Coherence). Der Grund für die schwindende Hingebung der Adressaten (5,11) sei in ihrer Leidenserfahrung zu erkennen (128), auf die der Hebr auch theologisch reagiere. Hier hebt D. implizit, aber richtig die klassisch vorgenommene Trennung zwischen auslegenden und ermahnenden Passagen im Hebr weiter auf.
Das letzte Hauptkapitel (131–174) untersucht die Darstellung von exempla im Hebr und bietet dabei das überzeugendste Argument des vorliegenden Werkes. Auf Grundlage eines Überblicks über exempla in griechisch-römischer und jüdischer Literatur stellt D. die These auf, dass exempla wie die Helden von Hebr 11 nicht aufgeführt würden, wären deren Leiden und die Konfrontation mit dem Tod für die Adressaten irrelevant gewesen. Das vorbildhafte Verhalten Jesu im Angesicht von Leiden und Tod (5,7–10; 12,1–3) gelte auch als relevantes Beispiel für einen entsprechenden Um­gang mit der gegenwärtigen Situation. Zudem setze die Interpretation des Leidens als παιδεία (12,5–11) ebenso gegenwärtiges Leiden voraus (172–173; vgl. 124).
Im siebten Kapitel (175–183) wird u. a. Leiden im »frühen Chris­tentum« (faktisch nur im Neuen Testament) zusammengefasst. Dabei ordnet D. den Hebr in eine Situation im späten 1. Jh. ein, in der sich Christen zumindest als verfolgt und unterdrückt empfanden (180).
Die vorliegende Studie stellt einen wichtigen Beitrag zu zentralen Fragen der Hebr-Exegese dar. Sie belegt die Dichte der Themen Leid und Tod und plausibilisiert dabei eine Situation des Leidens, die den Hebr als Ganzen sinnvoll einordnet. Es ergeben sich allerdings einige kritische Rückfragen: 1. Kann eine These, die für ihre Begründung maßgeblich auf die Analyse von Bedeutungsfeldern zurückgreift, den außerbiblischen Sprachgebrauch so stark ausblenden, wie es D. durch den fast ausschließlichen Gebrauch von Louw-Nida tut (vgl. 52!)? 2. Es ist außerdem unklar, ob die angewandte Methodik sich an einer konkreten sozialen Situation oder nur zentralen theologischen Anliegen orientiert (vgl. 111). In diesem Sinne bleibt offen, ob Todesfurcht oder Todesgefahr im Hebr wirklich mehr darstellt als existentielle Angst, zumal Hebr 12,4 (»ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden«) – wenn der Vers nicht metaphorisch zu deuten ist, was D. nirgends überlegt – auf eine gewisse Distanz zu unmittelbarer Todesgefahr hinweist. 3. Man kann zuletzt fragen, ob sich nicht andere Resultate ergeben hätten, würden andere ebenso dominante theologische oder gar moralische Bedeutungsfelder (wie z. B. Sünde, Heiligkeit, [Un-]Ge- horsam, [Un-]Gerechtigkeit, gut, böse) ausgewählt. Vielleicht räumt D. aus diesem Grund ein, der Hebr könne mehrere Anliegen an­sprechen (45). Dieses Eingeständnis führt allerdings zur zweiten obigen Anfrage zurück.