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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

757–759

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bösen, Willibald

Titel/Untertitel:

Für uns gekreuzigt. Der Tod Jesu im Neuen Testament.

Verlag:

Freiburg: Verlag Herder 2018. 360 S. m. 160 Abb. Geb. EUR 26,00. ISBN 978-3-451-38714-2.

Rezensent:

Günter Scholz

Mit diesem Lehr- und Lernbuch schaltet sich Willibald Bösen, Prof. em. für katholische Theologie und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Biblische Theologie an der Universität Bielefeld, nicht nur in die Diskussion um eine angemessene Interpretation des Kreuzestodes Jesu ein, sondern er komplettiert seine beiden vorausgegangenen Bände (»Der letzte Tag des Jesus von Nazaret« [1994] und »Auferweckt gemäß der Schrift« [2006]) mit dem nunmehr dritten.
Wie die vorigen Bände hat auch dieses Buch Lehrende an Schulen und sowie Studierende, Pfarrer und interessierte Laien als Zielgruppe vor Augen. Entsprechend hochwertig ist die didaktische Linie, die dieses Buch durchzieht. Dazu zählen die 160 Skizzen (Download-Möglichkeit gegeben) ebenso wie die grau unterlegten Zusammenfassungen hinter einer Kapitelfolge. B. stellt die zentrale Bedeutung des Kreuzes sowohl für Paulus (und seine Schüler) als auch für die Evangelisten heraus, vernachlässigt dabei aber keineswegs Jesu Lebensweg als Interpretationshilfe für die Heilsbedeutung des gewaltsamen Todes (»erlöst durch Jesus als ganzen« [318]). Diese ganzheitliche Sicht auf Jesus, ohne den kerygmatischen vom historischen zu trennen, ist ein neuer, gewagter, zugleich aber auch Verständnis eröffnender und Erfolg versprechender Ansatz.
Neben Jesu »Pro-Existenz« als Verständnis-Vorlauf für das Kreuz treten typische Gestalten des Alten Testaments (leidender Gerechter, Gottesknecht) und kultische Riten (Blutritus, Asaselritus, hellenistischer Märtyrerkult). B. erklärt diese Vor-Bilder nicht nur in ihrem historischen Kontext, sondern befragt sie auch »auf ihre existentielle Bedeutsamkeit hin« (295), um auf diese Weise Vorbehalte z. B. gegen (Sühn)opfervorstellungen aufzubrechen.
Greifen diese Deutungen hinter das Kreuz zurück, so ist die Erfahrung der Auferweckung der »hermeneutische Schlüssel« (46), der den Fluch (Dtn 21,23) als Rettung, den Gekreuzigten als den Erlöser sehen lehrt. Darum gehören für B. Kreuz und Auferwe-ckung wie zwei Seiten einer Münze zusammen (47). Ohne den auf das Kreuz fallenden »Lichtkegel« (52) hätte die Geschichte Jesus »als Menschenfreund … in die Reihe der Großen der Welt eingereiht« (45).
Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel: A) Das Problem der Deutung des Todes Jesu in der Urkirche, im Juden- und im Heidentum; B) Das Kreuz im Lichtkegel der Auferweckung; C) Hebräer, Hel-le-nisten, Heiden: Jeder bringt seine religiösen Traditionen in die Deutung ein; D) Interpretationshilfen aus Bibel, Kult und Vita Jesu; E) 13 exemplarische neutestamentliche Texte, die den Deutungshintergrund sichtbar werden lassen: F) Vermittlung des Existenzgehaltes biblischer Interpretamente in Homiletik und Pädagogik. Dabei sind die Kapitel D (63–167) und E (169–292) zentral.
Kapitel D stellt die bereitliegenden Deutungsmuster des Todes Jesu dar. Dabei erscheinen Ps 22 und Jes 53 in einem Kapitel (D. I.). Jedem der beiden Textzeugen ein eigenes Kapitel zu widmen, hätte nicht geschadet, um zu unterstreichen, dass Ps 22 und Jes 53 ein je eigenes, ganz spezifisches Licht auf das Leiden Jesu werfen (Ps 22 profiliert eher die Christologie, Jes 53 eher die Soteriologie). Nichtsdestoweniger gelingt es B., in gebotener Kürze und Verständlichkeit Gliederung und Problemanzeige von Jes 53 zu erörtern (individuelle bzw. kollektive Deutung). Nicht erörtert wird die Problematik Stellvertretung und/oder Sühne. Hier wird stillschweigend eine Synthese vollzogen: »stellvertretende Sühne« (73; vgl. auch 93), ver mutlich nicht zuletzt auch wegen der überragenden Bedeutung dieses Gottesknechtsliedes, die B. ihm bei der Interpretation des Kreuzes in Evangelien und Briefliteratur beimisst.
Dass dem Opferkult mit Subjektübertragung und Blutritus einerseits (D. II.) und der Liturgie des Großen Versöhnungstages mit Objektübertragung und Asaselritus andererseits (D. III.) zwei Kapitel gewidmet werden, ist angemessen und trägt zur Klarheit der Riten bei, ebenso die Unterscheidung zwischen Opferpraxis (allgemein antik) und Opferverständnis (singulär israelitisch). B. stellt diese Kulthandlungen in den Zusammenhang alttestamentlicher Anthropologie (Sünden- und Schuldbewusstsein des Menschen) und in das daraus resultierende Bedürfnis nach Entsündigung und Sühne. So ergibt sich für ihn von hier aus eine Brücke zur Kreuzesdeutung im Hebr und auch zur heutigen Zeit, in der der Mensch seine »sündige Grundstruktur« in der Tiefe seiner Existenz erkennt (Max Frisch) (321) und auf Versöhnung aus ist (325). D. IV. ist dem Einfluss des hellenistischen und frühjüdischen Märtyrerkults mit seinem Stellvertretung und Sühne miteinander verschränkenden (!) »für« gewidmet (93).
Ob der Rückgriff auf den historischen Jesus (D. V.) eine Interpretationshilfe für das Kreuz war, überprüft B. traditions- und redaktionsgeschichtlich an verschiedenen Logien (Mk 10,45; Mk 8,31 parr/9,31 parr/10,32–34 parr; Mk 14,22–25 parr/1Kor 11,23–25). Gemessen an Jesu »Gesamtverhalten« kann er davon ausgehen, dass Jesus mit seinem gewaltsamen Tod gerechnet (Mk 8/9/10 parr) und Jesus ein feierliches Abschiedsmahl begangen hat als Höhepunkt seiner Mahlfeiern. Dabei hat das »für« eine entscheidende Rolle gespielt a) nonverbal im Brot- und Bechergestus, b) existentiell: Eine lebenslange Proexistenz hält sich bis in den Tod durch, c) ty-pologisch: Jesus ist »zweifelsfrei« in die Spur des Gottesknechts einzureihen, und d) allein seine »theologische Kreativität« (B. nach Merklein) hätte ihn das »für« im Sinne des stellvertretenden Sühnetodes deuten lassen. Hier freilich darf man fragen, ob die argumentative Kreativität nicht bereits die Form eines Bekenntnisses annimmt. Das aber ist B.s persönlichem Engagement geschuldet, welches die Lektüre so interessant und spannend macht.
Kapitel E geht der Frage nach, wie die Deutungsmuster aus D aus dem Kreuz ein »Holz der Hoffnung« machen (167). Besprochen werden 1Kor 15,3; Gal 3,13; Röm 3,25 f.; Röm 8,32/Joh 3,16/Mk 9,31; Phil 2,8; Eph 5,2; Mk 10,45; Mk 15,33; Mk 15,38; Mt 27,52 f.; Hebr 2–5; 9–10; Joh 1,29; Joh 15,13. Voraus geht jeweils skizzenhaft (wer mehr wissen möchte, folge den Literaturhinweisen) eine traditions- und redaktionsgeschichtliche oder zeitgeschichtliche Einordnung des Textes. Die Heilsbedeutung des ganzen Lebens Jesu (Proexistenz) findet B. in 1Kor 15,3; Phil 2,8; Mk 10,45; Mk 15,33.38; Mt 27,52 f. wieder, das »stellvertretende Sühneleiden« in Verbindung mit dem »Märtyrertod« in 1Kor 15,3; Gal 3,13; Mk 10,45; Mk 15,33; Joh 1,29; Joh 15,13, das Sühnopfer in Eph 5,2; Mk 15,33.38; Hebr 2–5.9–10. Die Zuordnung der Webfäden zu den Deutesätzen erscheint sachgerecht, gelegentlich allerdings nur sehr entfernt: Für die Zuordnung v on Joh 15,13 zur Sühnetheologie muss der Gesamtduktus des Evangeliums herhalten (286). Zudem scheinen sich Traditionen abzuzeichnen, die durch die »Materialfelder« nicht erfasst sind: die Passatradition (Joh 1,29), die Tradition der Hin(ein)gabe (paradidónai) (Röm 3,28/Joh 3,16/Mk 9,31) oder die Errichtung des Sühne-Mals auf Golgota (Röm 3,25 f.), wo aber gerade durch den deutlichen Anklang an Jes 53,10 (»als ’āschām hinstellen«) und den Hinweis auf das »Blut« der Sühnetod als Schuldopfer direkt angesprochen ist. Zur Vermittlung der zentralen Botschaft von der radikalen Liebe Gottes im Kreuz (F) formuliert B. neun Intentionen: das Kreuz
– als Geheimnis der unerforschlichen Weisheit Gottes erkennen
– als »Schlüssel« zum Geheimnis der Liebe Gottes erkennen
– von der Auferweckung her sehen lernen
– vom Leben Jesu her sehen lernen
– als Zeichen der Erlösungsbedürftigkeit der Welt sehen lernen
– als Gottes Hilfsangebot zugunsten des Menschen verstehen lernen (stellv. Sühne)
– als »Opfer« im Sinne einer ausgestreckten Hand Gottes verstehen lernen (Gottes Entgegen-Kommen)
– im Licht aktueller Stellvertretungsakte deuten können
– mit dem Gekreuzigten als Lebens- und Sterbensbegleitung erkennen.
Den Weg zu diesen Zielen geht er über didaktisch-methodische Hinweise, d. h. Ansprechen der den Zielen entgegenstehenden heutigen Bewusstseinslage (z. B. Marginalisierung von Sünde und Schuld; weitgehend negative Konnotation des Opferbegriffs) und deren Überwindung durch einleuchtende Handlungsorientierungen und Beispiele (z. B. stellvertretendes Eintreten). Hier finden der Unterrichtende und der Prediger reiches Material in Wort und Bild.
Es ist erhellend und gewinnbringend, sich mit B. gemeinsam auf den Weg zu machen nach antiken und modernen Deutungskategorien des Kreuzes und sie in ihrer existentiellen Sinnhaftigkeit (neu) zu verstehen. So wird der breite Traditionsstrom von Opfer und Sühne wieder ent-deckt, dessen Zuschüttung ein lebensmindernder Verlust wäre.