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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

754–757

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Weimar, Peter

Titel/Untertitel:

Jona.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2017. 480 S. = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 85,00. ISBN 978-3-451-26848-9.

Rezensent:

Meik Gerhards

Peter Weimar hat einen ausführlichen Kommentar vorgelegt, den keine gründliche wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Jonabuch unbeachtet lassen wird. Die Einleitung (35–66) beschreibt das Buch als kunstvoll gestaltete Erzählung »von lehrhaft-didaktischem Zuschnitt« (59). Der Verzicht auf eine eindeutige Gattungsbestimmung (39) entspricht der Offenheit für das Fremdartige und dem Nachspüren der »feinsten Verästelungen sprachlicher und literarischer Gestaltung«, mit denen W. an das Buch herangeht (11).
Die Ausführungen zur literarischen Eigenart (35–39) und kunstvollen Gestaltung (39–44) weisen darauf hin, dass durch die Verwendung zweier Erzähl- und Sprachebenen ein hintergründiges Bild der Welt erzeugt wird: Die erste, vor allem mit Jona verbundene Ebene ist »durch einen prosaisch-nüchternen, fast geschäftsmäßigen, auch stark formelhaften Stil« geprägt und zeichnet eine Welt, die »vom Gesetz des Funktionierens und Regelhaften« ge­prägt ist; die zweite ist »stärker durch poetische Züge bestimmt« und richtet den Blick auf eine Welt, die »dem Fragen, Staunen, Wundern Raum gibt«. Insgesamt entsteht so »das Bild einer Welt, die entgegen allem äußeren Schein geprägt ist vom Unerwarteten, Unverhofften« (37).
Auch das für die Jonaerzählung typische Stilmittel der »Nachholung« schafft »Tiefendimension wie Perspektivenreichtum«. Jonas Rolle wird damit »in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit« dargestellt: Auf der einen Seite erscheint er »als jemand, der sich als unbeteiligt wirkender Beobachter gefällt […], auf der anderen Seite aber auch als jemand, der sich angefragt weiß vom Seesturm, vor allem aber von den Ereignissen in Ninive« (41). In den Nachholungen 1,5b.6 und 3,6–9 werden ihm der Kapitän und der König von Ninive gegenübergestellt. Beide erwarten »etwas von Gott, ob­gleich sie eigentlich nichts zu erwarten haben«, während Jona von Gott nichts erwartet, »das nicht der überlieferten, von ihm bekannten Vorstellung von Gott entspricht«. Das »eigentliche Problem« Jonas ist also »die Rätselhaftigkeit des göttlichen Handelns, das ihm angesichts seiner Widersprüchlichkeit schwer verständlich ist« (42).
Diese Rätselhaftigkeit wird auch dadurch hervorgehoben, dass der konkrete Bezug der Leitworte »groß« und »böse« jeweils eine überraschende Wendung markiert (vgl. 42 f.): In 1,2 sind beide auf Ninive bezogen »die Größe der Stadt ebenso erinnernd wie die Bosheit ihrer Bewohner ins Spiel bringend«. In 3,3b heißt Ninive aber »eine große Stadt für Gott«, um sie als für Gott wichtige Größe zu charakterisieren: In 4,10 f. wird Gottes Mitleid für Ninive mit der Größe der Stadt begründet. Nachdem Ninive in 1,2 »böse« genannt worden war, wenden sich die Niniviten in 3,5–9 überraschend vom »Bösen« ab; nach 3,10 lässt daher auch Gott von dem Bösen ab, das er über Ninive verkünden ließ (3,10).
Ein wichtiges »rhythmisierendes« Gestaltungsprinzip ist die Konzentrik, die einzelne Episoden, aber auch das ganze Buch prägt. Die Mitte des Buches bildet die erneute Beauftragung an Jona (3,1–3a). Damit steht eine Gottesrede im Zentrum, aber auch am Anfang (1,1–3) und am Schluss (4,10 f.) (vgl. 47 f.). Das Jonabuch erweist sich als »Wort-Gottes-Geschichte« (48.76, jeweils nach R. Lux), deren Thema der Wandlungsprozess Gottes gegenüber Ninive ist: Am Anfang beruft er Jona, um gegen Ninive Gericht zu verkünden; in der Mitte deutet sich »die Möglichkeit eines offeneren Verständnisses« der Botschaft an – nach 3,2 soll Jona soll nicht »gegen sie [= Ninive]« ( cālähā) rufen, sondern »zu ihr hin« (celähā) (vgl. 286) –, der Wandlungsprozess ist in der abschließenden Jahwe-Rede schon vollzogen (49): Jona tritt »ein anderer […] Gott gegenüber, dessen Handlungsweise sich in einem Wort zusammenraffen lässt – ›Mitleid‹« (455).
Um das Gerüst der Gottesreden 1,1–3; 3,1–3a; 4,10 f. herum gliedert sich das Buch in zwei Hälften, die vom »Antagonismus zwischen Gottes Handeln und der Wirkung, die davon auf Jona ausgeht«, bestimmt sind (49). Am Ende scheitert Jona, weil er erkennen muss, dass die Gnade Gottes, die »ihm in Bezug auf Israel keine Frage ist« (4,2), auch für »das sich durch ein Übermaß an Bosheit auszeichnende Ninive gilt« (50).
Von den vielen intertextuellen Bezügen sind im Blick auf Jonas Scheitern Anklänge an die Elia-Geschichten relevant (56; auch 76. 139 f.371 f.). Allerdings ist Jona nicht als lächerliche Gegenfigur zu Elia gezeichnet (gegen H.-J. Opgen-Rhein), die Anspielungen verdeutlichen vielmehr »den tiefen Ernst dessen, was von Jona erzählt wird«: Elia stürzt in tiefe Depression, weil seine Mission gescheitert ist (1Kön 19); Jona dagegen »scheitert letztlich an Gott selbst, der ihm zu einem fremden Gott geworden ist« (56 f.; vgl. auch 372 zu Jon 4,3).
Die Frage nach der Berechtigung von Gottes Mitleid für Ninive (4,10 f.) bleibt innerhalb der Erzählung unbeantwortet, zielt also auf eine Antwort des Lesers. Dass keine Erklärung, sondern die »anfordernde Frage« am Schluss steht, charakterisiert das Mitleid Jahwes mit dem bösen Ninive als »ein das Leben selbst berührendes Problem, die Frage nämlich nach der eingefahrene Denk- und Deutungsmuster in bestürzender Weise sprengenden, dadurch das eigene Lebensprogramm ins Wanken bringenden Wirklichkeit JHWHs, die sich angesichts der Widersprüchlichkeit seines Handelns für Jona bis zur Unkenntlichkeit verdunkelt hat« (456, mit Berufung auf R. Lux). Die Schlussfrage zieht den Leser mithilfe von Rückverweisen vertieft in die Erzählung hinein (456): Lässt er sich im Licht der Erzählung zu einem »Nachdenken über Gott« anregen, »der sich an Ninive in so überraschend-unerwarteter Weise gezeigt hat« (461); lässt er sich insbesondere durch die Fragen, mit denen Gott auf Jonas Klage in Kapitel 4 reagiert, »Schritt für Schritt […] immer tiefer in das tiefste Geheimnis Gottes« hineinführen, »dessen eigentliches Wort Barmherzigkeit, ja Menschlichkeit heißt, nicht Gericht« (462)?
Vor diese Fragen wird der Leser geführt, der das Jonabuch unter Anleitung von W.s Kommentar studiert. Der Rezensent hat den Kommentar mit großem Gewinn, aber auch mit Freude studiert, nicht nur wegen einer Fülle von exegetischen Einsichten und Impulsen, sondern auch im Blick auf die theologische Anregung, anhand des Jonabuches über die alle Erwartungen und jedes überkommene Bekenntnis sprengende Barmherzigkeit Gottes nachzudenken.
Kritische Anfragen scheinen im Blick auf die Annahme literarischer Zusätze angebracht, die W. in den Redekompositionen 2,2–10 (»Jonapsalm«); 3,6–10a (Edikt des Königs); 4,1–4 (Jonas Klagegebet) sieht, obwohl er zugleich der vorliegenden Fassung der Erzählung »ausgefeilte literarische Technik« attestiert (vgl. 54 f.; zur Analyse von 3,3b–4,4 auch 306 f.). Es wäre zu diskutieren, wie sich die von W. angeregte Sicht des Buches verändert, wenn man auf die hypothetische Unterstellung literarischer Zusätze verzichtet. An wichtigen Einzelheiten bleibt u. a. zu fragen, ob die ursprünglichen Leser des Jonabuches bei der Erwähnung Ninives nicht vor allem an die Großmächte gedacht haben dürften, die sich seit dem 8. Jh. in der Vorherrschaft über Israel abwechselten (bestritten 89). Darauf verweist der alttestamentliche Konkordanzbefund zu »Ninive«. Wird Ninive als paradigmatische Großmacht verstanden, deren aggressives Verhalten die Existenz Israels bedroht, ist die vor Gott gedrungene Bosheit der Stadt (1,2) von daher zu bestimmen (nach S. 85 sind aufgrund des Pluralsuffixes cātām [= »ihre Bosheit«] mit U. Simon die »Schlechtigkeiten« gemeint, »die die Bewohner der Stadt einander angetan haben«); auch wäre Jonas Bestürztheit über Gottes Gnade für Ninive noch klarer nachvollziehbar.
Obwohl aber diese Spitze fehlt, ist W. zu danken, dass er Versuchen, Jona als satirische Figur zu interpretieren, entgegentritt und ihn sogar als »tragische Figur« bezeichnet (S. 463 unter Berufung auf S. Herrmann). Als tragische Figur – d. h. als mittlerer Charakter, dessen Weg in Furcht und Mitleid mitzuvollziehen ist –, nicht als Figur der Satire fordert die Jonagestalt zur Identifikation heraus und unterstreicht insgesamt, was in der Schlussfrage unabweisbar wird: Der Leser soll »selbst Teilhaber der erzählten Geschichte« werden (459), sich der Problematik des verwirrenden Mitleids Gottes stellen, dabei aber Jonas tragisches Scheitern vermeiden.